Teil 29

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Die Umrisse der Tanne tauchten wieder auf, sobald ich versuchte einzuschlafen. Ich wartete schon darauf wieder vor ihr zu stehen, doch ich schlief den Rest der Nacht ruhig, worüber ich auch sehr dankbar war. Am nächsten Morgen wachte ich um kurz vor acht auf und ging in die Küche, wo meine Adoptivmutter schon mit Kaffee und Zeitung saß:"Konntest du noch schlafen?" Ich nickte:"Ich unternehme heute etwas mit Wendy, einer Freundin aus der Schule." Die Sache mit Luke konnte ich ihr ja erst einmal verheimlichen.

Sie lächelte mich an:"Das ist schön, was macht ihr denn?" Ich zuckte nur mit den Schultern:"Wir treffen uns um halb zwölf in der Stadt." "So früh?" "Ja, sie hat heute Nachmittag noch etwas anderes vor." In ihrem Blick lag Misstrauen, sie sagte aber nichts dazu:"Willst du frühstücken?" "Ich bekomme das schon alleine hin, es ist ein Gips, keine Lähmung." Sie blätterte eine Seite um und sah vom Küchentisch auf:"So hatte ich das auch nicht gemeint." Ich suchte in einem Küchenschrank nach einer Schale und holte mein Müsli hervor. Ich setzte mich ihr gegenüber und begann zu essen.

"Brauchst du Geld?", sie sah nicht von ihrer Zeitung auf. Ich schluckte, um nicht mit vollem Mund sprechen zu müssen:"Vielleicht ein bisschen." "In Ordnung, ich gebe es dir dann später." Ich nickte kauend und ging dann duschen. Meine Augen wirkten nicht mehr so müde wie gestern und ich war auch, für meine Verhältnisse, nicht mehr so bleich. Ich trug extra nur wenig Make-up auf und entschied mich für eine schwarze Hose und ein graues Oberteil, das ich allerdings am Arm nur zur Hälfte runterziehen konnte, da der Gips im Weg war. Bei diesem Anblick seufzte ich, irgendwie würde ich es ihm schon heimzahlen.

Ich trat aus dem Bad und sah auf die verschiedenen Türen. Die, die zum Dachboden führte lag direkt neben dem Schlafzimmer meiner Adoptiveltern, und ich überlegte, ob ich doch jetzt nochmal nach oben gehen sollte, aber ich hielt mich zurück. Das hatte bis nachher Zeit. Ich schnappte mir meine Tasche und stolperte fast, als ich die Wendeltreppe herunter eilte. "Ich gehe jetzt.", rief ich und maschierte auf die Haustür zu. "Warte, dein Geld.", sie kam mit 150 Euro in der Hand angerannt. "Was, warum so viel?" "Klamotten sind doch so teuer heutzutage, nimm Melrose.", sie achtete genauso sehr wie ich darauf, dass sich unsere Hände nicht berührten. "Danke.", ich steckte die Scheine unsicher weg. "Viel Spaß!", sie lächelte. "Werde ich haben."

Ich lief durch die Einfahrt unseres Hauses und steuerte auf die Bushaltestelle zu. Genau zwei Minuten nach halb stand der schwarze Audi vor mir. "Guten Morgen.", begrüßte mich Luke. "Morgen und du bist zu spät." Er sah auf seine Armbanduhr:"Mist, verzeihen Sie mir." Ich musste lächeln:"Vielleicht." "Radio?" "Ist das deine Standardfrage?" Er grinste und schaltete es ein. Ich sah aus dem Fenster und versuchte mir so viel wie möglich zu merken, allerdings war ich noch nie gut mit Straßennamen. Ich hatte mir einen Plan zurechtgelegt, der mir selbst sehr Angst machte, aber das war die einzige Möglichkeit herauszufinden, ob Steve Wilson ein Nightmare ist, ohne ihn zu fragen. Ich würde ihm die Hand geben, und zwar freiwillig.

"Bist du nervös?", Luke fuhr gerade um eine Kurve. "Nein, warum?" "Du sprichst sonst mehr." "Vielleicht ein wenig aufgeregt." Er lächelte:"Du brauchst dir keine Sorgen machen, er ist wirklich nett." Ich nickte nur und Luke respektierte, dass ich im Moment nicht mehr sprechen wollte. Er bog in einen verkehrsberuhigten Bereich und ich konnte schon erahnen, welches Gebäude die Praxis war. Ein wunderschön angelegter Steingarten mit Buchsbäumen und ein weißes Haus bauten sich vor mir auf. Ein Schild mit der Aufschrift
Heilpraxis von Dr. Wilson
bestätigte meine Vermutung. "Alles okay?", Luke parkte auf dem Parkplatz neben dem Gebäude. "Ja." Er warf einen Blick auf die Uhr, wir waren überpünktlich. Wir gingen zum Haupteingang und Luke führte mich zur Anmeldung.

"Guten Morgen, Luke, was kann ich für dich tun?", eine Frau lächelte vom Computer aus in unsere Richtung. "Ich hatte einen Termin mit meinem Vater um elf Uhr arrangiert." Sie klickte ein paar mal auf ihrer Maus herum und grinste dann:"Um elf, gut, dann nehmt doch noch einen Moment im Wartezimmer Platz." "Danke, Luise.", er gab mir ein Zeichen, ihm zu folgen. Ich sah mich um, alles wirkte wie eine große Arztpraxis, nur tausend mal edler.

"Luke was machst du denn hier?", ein Mädchen in meinem Alter fiel ihm um den Hals. Sie runzelte die Stirn, als sie mich sah. "Lange nicht mehr gesehen, Clara." Ich musterte sie, nach ihrem weißen Oberteil nach zu urteilen, arbeitete sie hier. Ich lächelte ihr zu, doch sie sah mich nur seltsam an, wahrscheinlich ging sie davon aus, dass ich irgendwelche psychischen Störungen hatte, und wusste nicht, wie sie mit mir umgehen sollte. Luke, der den fragenden Blick von Clara bemerkt hatte, erklärte:"Das ist Melrose, eine Freundin von mir."
Eine Freundin, hatte er mich wirklich so genannt?

Nightmare-Ist Angst stärker als Liebe?Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt