Teil 91

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Ich sah aus dem Augenwinkel, dass sich noch jemand vor mich stellte und es lief mir eiskalt über den Rücken. "Schau mich sofort an!", sagte die männliche Stimme nochmal und ich zuckte zusammen. "Ganz ruhig, Jake.", das war die Stimme eines Mädchens. "Wie kommt sie hier rein?", fragte er und ich war wie versteinert. "Woher soll ich das wissen, frag sie doch!", ertönte das Mädchen wieder. "Sieh mich an!", seine Stimme klang kühl und bestimmt, sodass ich den Kopf hob und direkt in warme, blaue Augen aufsah. Der Junge vor mir war wahrscheinlich in meinem Alter und das Mädchen ebenso. Beide hatten weiß-blonde Haare und musterten mich kritisch. "Wie bist du hier hereingekommen?", sie verzog die Augen zu Schlitzen und ich fühlte mich unfähig, etwas zu antworten. "Hast du deine Sprache verloren, oder was ist mit dir falsch?", fragte Jake und trat einen Schritt näher. "Berühre sie noch nicht, sie soll uns erst antworten.", zischte das Mädchen und Jake rollte mit den Augen. Mein Magen zog sich in der Zwischenzeit zusammen und ich versuchte meinen Atem unter Kontrolle zu bringen.

"Durch das Kraftfeld.", keuchte ich dann endlich. Jake lachte:"Das kann gar nicht stimmen, es wurde keiner eingeladen." Und dann stellte sie die entscheidende Frage:"Wer bist du überhaupt?" Ich wollte gerade den Mund aufmachen, als meine Kette begann, wie verrückt zu glühen und ich zuckte zusammen, griff an meinen Hals und hob sie an, weil sie mich wahrscheinlich sonst verbrannt hätte. Jake zog scharf die Luft ein:"Woher hast du die?" Er kam noch näher und ich wich zurück, jedoch entschlossener denn je:"Von meiner Mutter." "Das kann nicht sein.", stieß das Mädchen hervor. "Wer bist du?", wiederholte der Junge die Frage. Ich atmete tief durch und straffte dann die Schultern:"Melrose Morgen." "Willst du mich auf den Arm nehmen?", rief Jake aus und auch das Mädchen schnaubte. "Das gesagt zu haben, wirst du bereuen.", sie trat in Sekundenschnelle vor und bohrte ihre Fingernägel in meinen Arm, ohne dass ich es hätte verhindern können.

Es wurde komplett dunkel um mich und ich spürte, dass da irgendetwas die Kontrolle über mich erlangen wollte. Ich blinzelte, doch es blieb alles schwarz. So fühlte sich es also an, wenn ich andere anfasste. Du darfst die Kontrolle nicht verlieren, versuchte ich mich zu erinnern. Sie wollte mir weh tun, weil sie mir nicht glaubte, aber das würde ich nicht zulassen. Ich kämpfte gegen die Kraft an und ließ sie nicht in meinen Kopf eindringen, sie würde mich nicht beherrschen. Ich spürte, dass sich alles in mir anspannte, auch wenn ich mit meinem Geist an einem ganz anderen Ort war. Denk an die Tanne, befahl ich mir, lass sie dir helfen. Auf einmal konnte ich wieder sehen, ich stand an dem Ort, wo ich Tobias hingebracht hatte, als ich ihn berührt hatte. Vor mir stand das Mädchen aus dem Wald neben der Morgentanne und starrte mich ungläubig an. Ich wollte lächeln, doch dann wurde es wieder hell um mich und der Druck an meinem Handgelenk ließ nach, es waren lediglich noch Handabdrücke zu sehen. Ich rieb darüber und sah dann in zwei völlig verwirrte Gesichter. "Ich bin eine Morgen.", sagte ich fest. Sie schüttelte den Kopf:"Das kann doch gar nicht sein." "Melrose Morgen ist tot.", Jake sah mir direkt in die Augen. "Nein, sie steht gerade vor euch.", erwiderte ich. "Nie im Leben-", fing er an, doch wurde von dem Mädchen unterbrochen.

"Sie hat ihre Augen, Jake." "Aber das geht doch gar nicht, das ist unmöglich." "Wer seid ihr?", fragte ich, um nicht darauf eingehen zu müssen. "Jara Morgen und das ist mein Zwilling Jake Morgen." Mein Herz machte einen Sprung, sie gehörten zu meiner Familie, ich war endlich bei ihnen. "Freut mich, euch kennenzulernen.", ich ignorierte die Tatsache, dass sie mich angafften wie einen Löwen im Zirkus. "Aber wir haben dich doch beerdigt.", sagte Jara ungläubig. Jake fiel ihr ins Wort:"Das ist doch nie im Leben Melrose. Alisias Tochter ist bei der Flucht gestorben." "Welche Flucht?", platzte es aus mir heraus und ich sah zwischen beiden hin und her. Jara und Jake wechselten seltsame Blicke, bis sie dann das Wort ergriff, aber nicht auf meine Frage antwortete:"Sie sieht Alisia so ähnlich, Jake und wie sollte sie sonst das Kraftfeld passieren, ohne dass wir davon mitbekämen?" Es gab also doch irgendeine Art Alarm.

"Keine Ahnung, aber Melrose ist vor vielen Jahren gestorben, vielleicht hat sie irgendwelche Kräuter gefunden, die unsere Kräfte und die Schutzmauer überwinden können." "Jetzt redest du aber Scheiße, Jake. Wir sind nicht einfach auszuschalten!" Ich verfolgte ihr Gespräch stumm und wusste nicht, wie ich beweisen konnte, dass ich nicht log. Wieder sahen mich beide stumm an. "Ich habe mich nicht in Luft aufgelöst.", sagte ich trocken. "Natürlich nicht.", Jara schüttelte den Kopf. "Wir bringen sie zu Mayra, sie wird das alles klären.", meinte Jake und mein Herz schlug wieder schneller. Würde meine Tante mich erkennen, oder rausschmeißen?

Es war unangenehm ruhig und ich fragte mich immer noch, was sie mit der Flucht gemeint hatten, während ich zwischen ihnen wie ein Sträfling herging. Sie hatten nichts gesagt und mich einfach in die Mitte genommen, als hätten sie Angst, ich würde weglaufen, wenn sie nicht genug aufpassten. Ich spürte die Seitenblicke auf mir und die drückende Stille drohte mich förmlich zu ersticken. "Ist es noch weit?", fragte ich, weil ich es einfach nicht mehr aushielt. Wir stapften schon gefühlte Stunden durch den Wald. Mir antwortete keiner und ich wägte meine Chancen ab, wie ich hier heil wieder herauskommen würde, doch dann sprach Jara endlich mit mir. "Es ist nicht mehr weit, wir müssten das Schloss gleich sehen." Und so war es auch. Wir liefen einen kleinen Hügel hinauf und danach konnte man die etlichen Türme sehen. Mein Kopf ging hin und her, hoch und runter, so riesig war es. Ein unglaublich großes, hölzernes Tor war der Eingang. Die Grundmauern waren allesamt grau und von bestimmt hunderten von Fenstern geziert. Ich fing an die Türme zu zählen, doch es waren einfach zu viele. Die Ziegel waren matt und schwarz. Es passte alles gar nicht mit der Umgebung zusammen. Man sollte meinen ein solches Schloss müsste eigentlich auf einem Berg stehen und nicht versteckt mitten in einem geheimen Wald. Ich kam aus dem Staunen einfach nicht mehr heraus:"Wow." Jake warf mir einen seltsamen Blick zu, sagte aber nichts und zusammen gingen wir einen angelegten Weg, bis zum Eingangstor entlang.

"Öffnen.", sagte Jara mit einer eisernen Stimme, als wir direkt davor standen. Ich hörte, wie sich Riegel verschoben und dann schwang das Tor mit tiefen Geräuschen auf, sodass wir eintreten konnten. Hier habe ich also einmal gewohnt, dachte ich. "Wenn du weiterhin so starrst, sorge ich dafür, dass du nichts mehr siehst!", spuckte Jake aus und sah mich finster an; er glaubte mir also immer noch nicht. "Jake!", rief Jara und ich lächelte. "Schon gut, bringt mich einfach zu meiner Tante."

Nightmare-Ist Angst stärker als Liebe?Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt