"Das habe ich mir schon gedacht.", sie strich sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht, während ich die Umschläge schon herausholte und dann auf den niedrigen Tisch vor mir schmiss. Einen Moment lang sah sie wie eingefroren auf das Papier und regte sich kein bisschen. "Was ist das?", sie nahm einen Briefumschlag vorsichtig in die Hand und fuhr über die Buchstaben. "Die waren in einer Kiste mit Dingen, die mir zurückgelassen wurden. Diese Briefe wurden an sämtliche Waisenhäuser geschickt, aber allesamt leer.", ich konnte meine schlechte Laune nicht mehr unterdrücken, also hörte sich das ziemlich anklagend an.
"Das ist merkwürdig.", bemerkte Mayra und ich sank in mich zusammen, sie wusste auch nicht, was das zu bedeuten hatte."Du verstehst das also auch nicht?", murmelte ich. "Nein, tut mir leid.", sie legte den Umschlag wieder sorgfältig vor uns. Ich starrte auf die zwei Buchstaben und fühlte mich augenblicklich einfach nur noch unglaublich müde, ich hatte es so verdammt satt, immer nach Antworten zu suchen.
"Melrose?", fragte meine Tante leise und ich sah auf. "Ja?" "Ist alles in Ordnung?" Ich hätte am liebsten losgeschrien, um mich geschlagen oder wäre fürchterlich gerne einfach losgerannt, doch ich blieb seelenruhig sitzen:"Ja, mehr oder weniger." "Sag schon, was belastet dich?" Ich spielte unruhig mit meinen Händen und fragte mich, ob ich ihr von meinem Verdacht mit den Brands erzählen sollte, doch genau in diesem Moment fing die Kette an zu glühen, deswegen entschied ich mich dagegen.
"Ich weiß einfach nicht, wo ich hingehöre.", sagte ich stattdessen. "Warum zweifelst du daran überhaupt noch? Du gehörst zu uns, du gehörst in dieses Schloss.", Mayra setzte sich kerzengerade hin, sodass sie noch größer wirkte. "Aber meine Adoptiveltern-" Sie unterbrach mich:"Haben ihren Job gut gemacht und können sich jetzt wieder anderen Dingen widmen, menschlichen Dingen. Denkst du nicht, es ist für sie ohne dich leichter?" Das tat weh, doch sie hatte recht, ohne mich wären sie besser dran, sie würden nicht laufend umziehen müssen und würden nicht streiten, auch wenn es sich im Moment wieder gelegt hatte."Ja.", ich sah betrübt auf meine Hände, die ich einfach nicht ruhig halten konnte. "Zieh zu uns ins Schloss, das wäre doch die beste Lösung für alle.", sie lächelte. "Und was soll ich meinen Eltern und Freunden sagen?" Mayra wedelte mit den Händen:"Nichts, du musst ihnen rein gar nichts sagen. Wir löschen einfach ihre Erinnerungen an dich, dann wäre es so, als hätte es dich nie gegeben."
Ich erstarrte.
Es war als wäre jede einzelne Zelle meines Körpers eingefroren und mein Kopf arbeitete nicht mehr richtig. Dann wäre es so, als hätte es dich nie gegeben.
Wäre das das Einfachste? Könnte ich damit leben? Alles zog sich in mir zusammen, als ich daran dachte, dass Luke, wenn er mich je wiedersehen würde, nicht einmal meinen Namen mehr kennen würde. Wendy wäre nie meine Freundin gewesen und meine Adoptiveltern nie meine Eltern. "Melrose?"
Ich hörte Mayras Stimme, als wäre sie hinter einer dicken Mauer, die ich um mich selbst gebaut hatte. Langsam schaute ich auf:"Ich- ähm-" "Dann wäre es leichter. Wir würden einfach hier zusammen leben und du müsstest nicht mehr aufpassen, dass du niemanden berührst." Ich schüttelte den Kopf:"Das muss ich jetzt auch nicht mehr. Ich kann mich beherrschen, da bin ich mir sicher." "Man muss immer aufpassen, Melrose. Selbst ich muss achtgeben, wenn ich aufgebracht bin. In emotionalen Momenten ist es fast unmöglich, die Kontrolle zu behalten."Ich schluckte:"Ich weiß nicht, ob ich das kann." Meine Gedanken schweiften sogar zu Zoe, Jana, Rosemarie, die Frau von der Bäckerei, zu Noel und den anderen zwei Freunden von Luke.
Sie alle würden mich einfach vergessen, für immer.
"Du musst dich doch auch nicht darum kümmern. Ich mache das." "So meine ich das nicht. Ich weiß nicht, ob ich sie alle hinter mir lassen kann." Meine Tante atmete laut ein:"Die Menschen haben dich aufgenommen, Melrose. Du hast nie zu ihnen gehört, du gehörst zu den Nightmares. Wenn du bei ihnen bleibst, wirst du immer anders sein, du wirst immer Probleme haben, über die du mit niemandem reden kannst. Wir sind hier, wir sind da für dich. Hier musst du nichts verheimlichen."
Ich habe nie zu ihnen gehört. Immer wurde ich ausgeschlossen und als Freak angesehen. Ich habe mich selbst ein Monster genannt, nur weil ich anders war, weil ich am falschen Ort war. "Du hast recht.", ich sah ihr direkt in die Augen, "Dann wäre alles einfacher." "Ja, ich will doch nur, dass du es gut hast, das hätte Alisia auch gewollt.", Mayra legte den Kopf schief und blickte mich freundlich an. "Wann?", hauchte ich. "So früh wie möglich. Deine Adoptiveltern warten ja auf dich."
In ein paar Tagen wird Melrose Morgen für alle Menschen Geschichte sein. Ich wusste nicht, wie es sich anfühlte, leer zu sein und trotzdem so unglaublich viel zu fühlen, bis zu diesem Moment. Alles stürzte in sich zusammen, meine ganze Welt wird niedergemacht werden und dann muss ich mir eine neue aufbauen. "Also ist das beschlossene Sache?", Mayra erhob sich. Ich sah wie in Zeitlupe zu ihr auf und zögerte dann kurz:"Ja." "Das war eine sehr gute Entscheidung, Melrose." Ich nickte stumm und starrte vor mich hin. Ich war mir nicht sicher, ob ich ihr da zustimmte.Die Tür ging auf und ich lief durch die Gänge, aber ich nahm das eigentlich gar nicht mehr wahr. Die Trauer zerfraß mich förmlich und drohte damit, mich unter ihr zu begraben. Ich bohrte mit meinen Fingernägeln in meinen Arm, doch ich spürte einfach nichts, da war rein gar nichts.
Ich werde alles hinter mir lassen, endgültig. Sie werden mich vergessen, es ist das Beste so, doch warum tat es dann so unglaublich weh? Mein Herz hämmerte gegen meine Brust und der Regen prasselte laut an die Scheiben, doch ich war nicht im Schloss, ich war ganz weit weg, irgendwo, wo mich keiner finden wird, ich wusste selbst nicht mal, wo das genau ist.
"Rose!" Ich ging weiter, ich ging einfach weiter. "Süße, warte doch, wo willst du hin? Draußen regnet es in Strömen!" Ich setzte einfach weiterhin einen Fuß vor den anderen, egal wo ich landen würde, denn anwesend war ich sowieso nicht.
"Jetzt bleib doch stehen!", jemand hielt mich am Arm zurück, doch ich riss mich sofort los und ging weiter, ohne mich umzudrehen. "Melrose Morgen, wo zur Hölle willst du bei diesem Wetter hin? Du hast nicht mal feste Klamotten an!", ich erkannte die Stimme erst jetzt als Nellis.
Meine Kapuze zog ich über den Kopf und sagte den letzten Satz, der mir in den Sinn kam, bevor ich nach draußen in den strömenden Regen trat:"Melrose Morgen wird es bald nicht mehr geben."__________
Spannung aufgebaut?😏
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Nightmare-Ist Angst stärker als Liebe?
ParanormalDieses Buch ist mittlerweile mehrfach überarbeitet worden & diese Fassung ist jetzt überall online als Taschenbuch erhältlich! Link dazu in meiner Bio! :) Melrose ist eigentlich ein ganz normales Mädchen, wenn man davon absieht, dass sie Menschen mi...