Teil 99

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Es war unheimlich schwer meine Augen zu öffnen und für einen kurzen Moment war ich verwirrt, als ich mich in einem riesigen Raum wiederfand, doch dann erinnerte ich mich. Ich sah auf eine Wanduhr links von mir und stöhnte auf, es war schon zehn Uhr und irgendjemand hämmerte gegen meine Tür. "Sag nicht, dass du noch schläfst!", Nelli kam herein. "Bis gerade eben.", ich setzte mich auf und knallte mit dem Kopf gegen die Bettkante, "Scheiße!" "Ach Süße, warte.", sie kam herüber und machte große Augen. "Was ist denn?", sagte ich genervt und rieb mir über den Hinterkopf. "Sei froh, dass nicht Erik oder Jake dich geweckt haben." Nelli zog mich hoch und ich stolperte ihr hinterher, dann stellte sie mich vor den Spiegel, noch bevor ich etwas erwidern konnte. Ich sah mich nicht an, ich wollte es nicht sehen und drehte mich zu meiner besten Freundin um:"Ich weiß, wie ich aussehe." Sie schob mich wieder nach vorne:"Melrose Morgen, jetzt sieh dich bitte an." Mit einem Augenrollen wandte ich meinen Blick auf den Spiegel. Dem Mädchen vor mir fiel die Kinnlade herunter und dann bewegte ich mich einfach keinen Millimeter mehr. Meine Augen waren komplett geschwollen und mein Kopf sah aus, als wäre er locker hundert Mal Achterbahn gefahren und hätte sich ebenfalls hundert Mal übergeben. Ich sah zu Nelli, doch sie drehte mich nur wieder um:"Sieh dir das ganz genau an. So wie du jetzt aussiehst, werde ich dich nie wieder sehen, hast du das verstanden?"

Mir traten Tränen in die Augen:"Ich-" Jetzt nahm Nelli mein Gesicht in ihre Hände und ich zuckte nicht zurück, ich genoss die Wärme ihrer Handflächen. "Sprich mir nach. Ich bin Melrose Morgen." Meine Stimme zitterte:"Ich bi- bin Melrose Mor- Morgen." "Und ich werde niemandem gehorchen, außer mir selbst." "Und ich we- werde niemandem geho- gehorchen, außer mir selbst."
Nelli lächelte:"Gut." Ich nickte und warf dann einen letzten Blick in den Spiegel, doch dieses Mal fiel er nicht auf mein Gesicht, sondern auf die Kette. Nelli folgte meinen Augen und sog scharf die Luft ein:"Tut das weh?" Ich starrte auf einen dunkelroten Abdruck der Kette und der Morgentanne. Ich strich mit der Fingerspitze darüber und spürte rein gar nichts:"Nein." "Das sieht total krank aus.", Nelli trat näher, um den Abdruck genauer zu betrachten. "Wahrscheinlich habe ich einfach nur darauf gelegen. Ich sollte sie beim Schlafen besser ausziehen." "Aber so tief-" Ich brachte Nelli mit einem Blick zum Schweigen und sie hob unschuldig die Arme in die Luft. "Kannst du das hier ändern?", ich deutete auf alles an mir. Sie grinste breit:"Lass mich nur machen."

Das Erste, was passierte, war, dass Nelli sich beschwerte, da ihr begehbarer Kleiderschrank nur halb so groß war wie meiner. Zudem bestand sie noch darauf, ich solle ein langes schwarzes Kleid anziehen. Ich weiß nicht, wie Nelli es immer wieder schaffte, mich durch Schminke menschlich aussehen zu lassen, obwohl ich auch eine wandelnde Leiche hätte sein können.
Jara wartete schon am Ende des Gästetrakts auf uns und winkte uns zu sich:"Ihr habt das Frühstück verpasst, aber es macht euch doch sicher nichts aus, allein zu frühstücken, oder?" Ich musste mein Lächeln unterdrücken:"Nein, das ist kein Problem."
Im Esszimmer angekommen durfte ich leider feststellen, dass wir doch nicht gänzlich allein waren, denn Mayra saß am Ende des Tisches, wo sie auch gestern saß und las etwas in einer komisch aussehenden Zeitung. "Guten Morgen.", sagte sie, ohne die Zeitung abzulegen. "Guten Morgen.", antworteten Nelli und ich gleichzeitig, dann nahmen wir rechts und links von ihr Platz, wo noch gedeckt war. Ich konnte das Dienstmädchen, das hereinkam, als Raven erkennen und grinste sie an:"Guten Morgen, Raven!" Sie zuckte zusammen und stellte dann das Essen vor uns ab, ohne auf meine Begrüßung einzugehen. Nachdem sie verschwunden war, funkelte Mayra mich böse an:"Was fällt dir ein?"

Ich verstand nicht richtig:"Was?" "Sie ist ein Dienstmädchen!" Nelli nahm sich ein Brötchen und bemühte sich sichtlich, nicht hochzusehen. "Wie bitte?" Jetzt legte meine Tante die Zeitung ab:"Sie arbeitet für uns, das ist eine Ehre. Dienstmädchen und Boten haben keinen anderen Stellenwert als diese Teetasse vor dir. Sie dienen uns, nicht mehr, nicht weniger." Ich starrte auf das Geschirr vor mir und dann zu Mayra, die sich wieder mit Lesen beschäftigte. "Gut", ich stand auf, "ich bin fertig."
"Stell dich nicht so an, du wirst deine Kräfte brauchen." Widerwillig setzte ich mich und fragte mich zugleich, ob ich das gerade tat, weil ich wusste, dass sie recht hatte, oder ob sie mich irgendwie beeinflusst hatte. Sie lächelte selbstzufrieden, was mir meine Frage beantwortete. Mayra hatte gerade meinen Kopf manipuliert. Ich tat so, als hätte ich nichts mitbekommen und schnitt ein Brötchen auf.
"Warum hast du alle Webseiten, die von Alisia handelten, geblockt?", ich schmierte Marmelade mit einem Messer auf und sah absichtlich nicht zu ihr herüber, um sie zu provozieren. "Weil es weh tut, Melrose, es tut weh sie zu sehen und über sie zu sprechen, sie ist meine Schwester." "Und meine Mutter. Ich finde, dass das nicht angemessen ist. Immerhin war sie die Königin und ist es eigentlich immer noch." Mayra schaute mich ausdruckslos an:"Sie ist seit sie verschwunden ist keine Königin mehr und glaub mir, du bist die Letzte, die entscheidet, was angemessen ist und was nicht."

Jetzt war der Punkt erreicht, an dem ich nicht mehr wollte. Ich schmiss den Stuhl um, als ich aufstand und spürte, dass irgendeine Kraft mich zurückdrängte. "Du kannst dir deinen Zauber für alle anderen aufsparen, aber bei mir funktioniert das nicht.", stellte ich lächelnd fest, worauf Nelli aufhörte zu kauen und Mayra mich mit riesigen Augen ansah.
Darauf erwiderte keiner mehr etwas, also verließ ich den Raum und lief einfach los, ohne zu wissen, wo ich hin wollte, ohne zu wissen, wo ich landen würde.

"Hast du schon fertig gefrühstückt?", Jakes Stimme ließ mich innehalten. "Oh ja, das habe ich." "Soll ich dich ein wenig herumführen?" Ich konnte jetzt jede Ablenkung gebrauchen:"Liebend gerne." Im Stummen entschuldigte ich mich bei Nelli, da ich sie einfach so hatte sitzen lassen, aber ich war mir sicher, sie konnte das verstehen.

"Wir sind gerade in der Nähe der Bibliothek, deswegen würde ich damit anfangen. Sie ist einer der größten Abschnitte des Schlosses." "Okay.", murmelte ich und ließ mich zu einem Tor führen, denn Tür konnte man dazu ganz sicher nicht mehr sagen. Jake ließ mich zuerst eintreten, wobei ich fast wieder ein paar Schritte zurück gemacht hätte. Man wurde förmlich von Büchern überschlagen, egal wo man hinsah, überall waren Bücher ordentlich geordnet in riesigen Regalen. In der Mitte war ein Geländer, das sich in einem Kreis schloss und ich trat darauf zu. "Die Bibliothek hat mehrere Etagen.", erklärte Jake und ich sah unter mich, wo noch mehr Regale standen. Der Boden war schwarz gefliest und an manchen Stellen glitzerte er sogar. Die Regale waren aus dunklem Holz und es wurde in jedes Einzelne eine Nummer eingeschnitzt. Wir standen gerade vor dem Regal 754 und selbst über mir ging es noch weiter. "Was sind das alles für Bücher?", fragte ich und sah weiterhin um mich. "Viele handeln von Vorfahren und Kräutern. Wir haben hier ganz viele Geschichten über Nightmares, teils erfunden, teils bewiesen. Du kannst hier auch jede Pflanze und ihre Wirkungen nachschlagen, sowie Geschichtliches. Es gibt Bücher über Menschen und Fähigkeiten." "Fähigkeiten?", wiederholte ich. "Ja, die von den königlichen Familien. Soweit ich weiß sind die im Erdgeschoss, also unter uns irgendwo." "Können wir dahin?", ich versuchte meine Neugier zu unterdrücken, aber vielleicht konnte ich so etwas darüber herausfinden, was mit Steve Wilson passiert ist, denn gänzlich konnte ich es nicht ausschließen, dass ein Nightmare ihm das angetan hatte. Schlichtweg, es gab einfach keine andere Erklärung.

"Später, jetzt führen wir die Besichtigung fort." Ich prägte mir das Erdgeschoss gut ein und folgte Jake dann wieder aus der Tür, oder dem Tor, je nachdem.
"Ich weiß gar nicht, was dich so interessiert, würdest du gern dein Gemach sehen, oder soll ich dir die Küche zeigen? Unsere technischen Räume?" "Nehmen wir einfach das, was in der Nähe ist." "Also dein Zimmer. Deine Mutter hatte damals darauf bestanden, dass es in unmittelbarer Reichweite zur Bibliothek lieg."
Ich hätte es nie zugegeben, aber ich freute mich darauf, zum Einen, weil ich noch nie so etwas Eigenes besessen hatte und zum Anderen, weil meine Mutter es für mich herrichten lassen hat.

Nightmare-Ist Angst stärker als Liebe?Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt