Teil 54

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"Melrose?", die Stimme meiner Adoptivmutter klang so monoton wie sonst nie. Sollte ich mich verstecken? Doch dann dachte ich an Steves Worte, dass ich sie lehren sollte, mich zu fürchten und das würde ich jetzt wohl oder übel auch tun müssen. "Ich bin oben.", rief ich und sah nochmal in den Spiegel. Mein Gesicht war total verquollen, meine Haare standen in alle Richtungen ab und meine Augen waren komplett gerötet vom ganzen Weinen. "Ich komme zu dir.", sagte sie. "Nein!", platzte es aus mir heraus, aber da war es schon zu spät. Sie drückte die Tür auf und ich konnte gerade noch rechtzeitig den Rucksack unter meinem Bett verschwinden lassen. "Dein Vater ist bis heute Abend zur Beobachtung im Krankenhaus, sie konnten nichts feststellen.", sie näherte sich mir, doch ich drehte mich nicht um. Ihre Stimme war viel leiser als sonst:"Was ist passiert, Melrose. Er weigert sich darüber zu sprechen." "Woher soll ich das wissen?", murrte ich. Sie begann zu schluchzen:"Ich verstehe das einfach nicht." "Und das wirst du auch nicht.", sagte ich. Als sie noch mehr anfing zu weinen, fühlte ich mich noch schlechter, aber ich musste mit ihr jetzt darüber sprechen, denn wenn mein Adoptivvater schon heute Abend wieder da sein würde, ging das nicht mehr:"Du musst dich von ihm trennen." Das verschlimmerte ihr Weinen nur noch:"Aber das geht doch nicht!"

"Er hat dich geschlagen, Mum!", rief ich. "Das war aus Versehen, er ist doch sonst auch nicht so." "Hast du schon vergessen, was er mir angetan hat?", jetzt drehte ich mich um und streckte ihr meinen Gips entgegen. Ihr Blick ruhte auf mir:"Du hast auch geweint." "Ja, das habe ich.", und schon wieder musste ich gegen die Tränen ankämpfen. "Hat es dich so mitgenommen, was passiert ist?" Für einen kurzen Moment erstarrte ich, doch dann fiel mir wieder ein, dass sie den Vorfall heute morgen meinte:"Hat es." "Das tut mir so leid." Ich sah aus dem Fenster in den Wald:"Komme ich jetzt weg von hier?" Ich hielt automatisch den Atem an und wartete auf die Antwort. "Das werde ich nicht zulassen." "Aber ich dachte-", fing ich an. "Du wirst bleiben, du bist doch mein Kind!" Und schon wieder traten mir Tränen in die Augen. Auch wenn ich dachte, ich sei alleine, ich war es nie gewesen. Ich konnte zwar nicht alles mit meiner Adoptivmutter besprechen, aber sie war immer für mich da und sorgte sich um mich. "Danke, dass du immer da bist.", ich lächelte ihr zu und sie lächelte genauso wie ich unter Tränen zurück. "Ich mache uns erst einmal etwas Richtiges zu essen." Ich zog eine Augenbraue hoch und sah sie schief an, dann lachte sie:"Na gut, vielleicht schiebe ich uns auch einfach ein paar Pommes in den Backofen." "Das klingt super."

Wir aßen gemeinsam und kurz bevor wir fertig waren, schnappte meine Adotivmutter nach Luft:"Heute ist ja Freitag, wir haben doch einen Arzttermin!" Ich hielt während dem Kauen inne und schluckte zügig:"Um wie viel Uhr?" "In einer halben Stunde!", sie sprang auf und räumte hastig alles auf und ich saß unschlüssig auf meinem Platz:"Können wir den nicht einfach verschieben?" "Melrose, nein, es ist wichtig, dass sie nach deinem Arm sehen." Der Tag würde immer besser werden. Schon wenige Minuten später saßen wir beide im Auto auf dem Weg zu irgendeiner Praxis, aber das war mir relativ egal. Ich war mit den Gedanken sowieso die ganze Zeit woanders, wie zum Beispiel bei Luke, Steve oder Nelli. Wenn ich einfach nur eine Person hätte, der ich vertrauen könnte, wäre alles so viel leichter. Eine abrupte Bremsung vor einer roten Ampel schleuderte mich zurück in die Realität. "Geht das nich schneller, es gibt Leute, die es eilig haben.", sie trommelte unruhig auf dem Lenkrad herum. "Wenn wir zwei Minuten zu spät sind, ist das auch kein Weltuntergang.", sagte ich und erntete dafür einen kritischen Blick. "Pünktlichkeit ist sehr wichtig, das wirst du früher oder später noch merken." Das erinnerte mich schon wieder an Luke, Mr. Pünktlichkeit. Allein der Gedanke an ihn versetzte mir einen Stich. Diesen abwertenden Gesichtsausdruck werde ich wohl so schnell nicht mehr vergessen und ebenso wenig, wie abweisend er sich dann verhalten hat.

"Willst du nicht aussteigen?", erklang die Stimme meiner Adotivmutter. War ich schon wieder weggetreten? Ich schnallte mich schnell ab und zusammen gingen wir auf die etwas quietschende Eingangstür zu. Die Praxis war so ziemlich das krasse Gegenteil von der, die Steve gehörte. Alles wirkte veraltet, und sogar die Pflanzen waren nur aus Plastik. Meine Mutter sah sich genauso seltsam um, wie ich. Es war weder dreckig, noch ekelhaft, es wirkte einfach alles wie aus einem Film, der vor vielen Jahren gedreht worden war. "Kann ich Ihnen helfen?", ein Junge, vielleicht 24, streckte mir die Hand entgegen und meine Adoptivmutter ergriff sie schnell für mich. "Wir haben einen Termin bei Doktor Stangerson, wir sind eigentlich jetzt dran." Ich warf einen Blick auf die Uhr, es war halb vier. "Natürlich, folgen Sie mir einfach.", der Typ lächelte ein wenig schüchtern und brachte uns dann durch einen Gang, der genauso wirkte, wie aus einem schlechten alten Horrorfilm ausgeschnitten, aber wenigstens hingen keine seltsame Gemälde von kleinen Kindern an der Wand. Als wir den Raum betraten, saß Doktor Stangerson schon auf einem, im Gegensatz zu dem Rest der Einrichtung, relativ moderenen Schreibtischstuhl und lächelte ein wenig verlegen. "Es tut mir leid, Sie hier behandeln zu müssen, Frau Morgen, aber unsere momentane Praxis wird renoviert und zur Zeit sind wir hier untergebracht."

Nightmare-Ist Angst stärker als Liebe?Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt