Teil 81

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Ein Teil von mir wollte, dass Luke nochmal anrief, während der andere am liebsten die Koffer gepackt hätte und ganz weit weggefahren wäre. Ich holte tief Luft und wählte nochmal Nellis Nummer und sie hob wirklich nach dem vierten Klingeln ab, auch wenn sie ins Handy schrie und im Hintergrund laute Musik zu vernehmen war:"Melrose, Süße, was gibt's?" "Hast du morgen schon etwas geplant?", fragte ich und hielt den Lautsprecher weiter weg von meinem Ohr. "Morgen", schrie sie, "was ist morgen?" Ich umklammerte mit meiner freien Hand die Bettkante:"Morgen werde ich zu Mayra fahren." Jetzt prustete sie los:"Bist du etwa auch besoffen?" "Nein, Nelli. Ich meine das ernst." Sie fing nur noch an mehr zu lachen:"Du hast sie doch nicht mehr alle!" "Nelli, verdammt! Kannst du überhaupt noch klar denken?" "Ja natürlich, Süße. Du willst zur Königin der Nightmares und dich damit selbst umbringen, denn sobald du einen Fuß auf ihr Gelände setzt, wirst du von ihnen-" "Nelli!", rief ich jetzt aus und sie verstummte augenblicklich. Ich schloss die Augen:"Mayra ist meine Tante, Nelli, falls du das schon vergessen hast." "Oh", ertönte ihre Stimme, "scheiße!" "Ja, du bist voll." Wieder kicherte sie:"Du willst, dass ich dich fahre." "Ja, wenn du bis dahin wieder nüchtern bist." "Aber klar doch, ich fahre dich." "Hol mich nach der Schule gleich am Tor draußen ab, in Ordnung?" "Sicher doch!", sie lachte wieder und ich seufzte. "Ich rufe dich morgen früh nochmal an."

"Anrufen!", sie prustete wieder los. "Bis morgen!", sagte ich jetzt genervt. "Morgen, dein Nachname!", sie lachte und hörte schon gar nicht mehr auf. Ich schüttelte den Kopf und beendete das Gespräch. Als Nächstes wäre Luna an der Reihe, aber wenn sie noch feiern ist, würde sie erst recht nicht rangehen. Gerade als ich mich hinlegen wollte, klopfte es leise an der Tür:"Herein." Meine Adoptivmutter streckte den Kopf durch den Spalt:"Ist bei dir wirklich alles in Ordnung?" Ich setzte mein Lächeln auf:"Ja, alles bestens. Nelli holt mich morgen gleich nach der Schule ab, also braucht ihr euch keine Sorgen machen, wenn ich noch nicht Zuhause bin." "Wann hast du denn vor zurückzukommen?", fragte sie und ich zuckte nur mit den Schultern. "Gegen Abend." "Denk daran, dass du am nächsten Tag Schule hast." "Mache ich." Sie sah sich kurz im Zimmer um und nickte dann:"Gute Nacht und schlaf schön!" "Du auch, gute Nacht." Jetzt wurde die Tür noch ein Stück geöffnet und mein Adoptivvater lachte:"Gute Nacht, Melrose." "Gute Nacht.", antwortete ich vorsichtig. Sie ergriff wieder das Wort:"Dein Gips kann übrigens bald ab, ich mache noch diese Woche einen Termin." Das war endlich mal eine komplett positive Nachricht, über die ich mich wirklich freuen konnte:"Das ist sehr gut." Mein Vater hatte sich wieder verdrückt und sie nickte heftig:"Ja, also träum etwas Schönes." "Werde ich.", dann fiel die Tür ins Schloss und ich dachte nach.

Würde ich heute wieder träumen? Ich kuschelte mich in die Bettdecke und zog sie bis zum Kinn hoch, dann schaltete ich das Licht aus. Eine ganze Weile starrte ich einfach nur an die Decke und malte mir das Treffen mit meiner Tante aus. Werde ich einfach durch einen Wald laufen, bis ein Schloss auftaucht, oder werde ich überhaupt irgendwie etwas bemerken, wenn ich auf das Gelände trete? Werde ich die Morgentanne sehen oder spüren? Wird mich meine Familie erkennen? Werden sie meine Fragen beantworten können? Können sie mir dabei helfen meine Mutter zu finden? Ich schüttelte den Kopf, um mir nicht mehr allzu viele Gedanken zu machen, aber es funktionierte nicht. Die Sorge, so verdammt falsch zu liegen, bereitete mir Angst und hielt mich wach. Irgendwann hielt ich es nicht mehr aus, schaltete das Licht erneut an und legte die Morgenkette wieder um meinen Hals, da ich sie sonst immer zum schlafen auszog. Sobald das Silber meine Haut berührte, fühlte ich mich besser. Ich weiß nicht, ob das Einbildung oder irgendein Zauber war, aber mit der Tanne um meinen Hals fühlte ich mich sicherer, irgendwie so, als wäre ich nicht allein. "Mum", flüsterte ich, "wenn du mich hören kannst und irgendwo da draußen bist, lass mich wissen, wo ich dich finden kann." Ich lauschte einen Moment, aber es kam natürlich keine Antwort. Ich tastete nach dem Lichtschalter und kroch dann wieder unter die Decke. Jetzt konnte ich auch beruhigt einschlafen, bis ich plötzlich mitten auf einer befahrenen Straße stand.

Die Scheinwerfer rasten auf mich zu, ich schnappte nach Luft und wich gerade im letzten Moment noch aus, sodass ich im Graben landete. Mein Kopf schoss in alle Richtung, doch außer den roten Lichtern des Autos, das mich gerade fast überfahren hätte, konnte ich nichts erkennen. Zudem konnte ich mir keinen Reim darauf machen, wo ich zum Teufel wieder einmal steckte. Weit und breit konnte ich nichts außer Feldern ausmachen und es war dunkel, lediglich die Sterne und der Mond erhellten die Umgebung ein wenig. Ich sah an mir herab und musste feststellen, dass ich barfüßig war. Träumte ich etwa? Natürlich musste ich träumen, was sollte das denn sonst alles hier? Ich versuchte irgendeinen Hinweis darauf zu finden, warum ich, während ich eigentlich schlief, auf einer Straße im Nirgendwo stand, aber es gab nichts außer Ferne. Wach doch auf, Melrose! Ich versuchte auf mich selbst einzureden, aber das half auch nicht, ich war in diesem Traum gefangen. Ich begann ein Stück am Rand der Fahrbahn zu laufen, doch es änderte sich nichts, Sterne, Straße, Mond, Felder, ich.

"Was soll ich denn hier?", fragte ich in die Dunkelheit und wie ein Windhauch ertönte ganz leise eine Stimme. "Sei vorsichtig!" Doch so schnell wie sie gekommen war, war sie auch wieder verschwunden. "Wer spricht da?", murmelte ich, doch der Wind war fort. "Hallo?" Und auf einmal zog mich etwas von diesem Ort weg und ich schlug die Augen auf. Es war immer noch dunkel, doch ich lag wieder unter meiner Decke. Ich machte das Licht auf dem Nachttisch wieder an und sah mich um, es war kurz nach zwei Uhr mitten in der Nacht. Was sollte mir dieser Traum sagen? War das eine Warnung? Und wer hatte mir gesagt, ich solle vorsichtig sein? Das war auf keinen Fall die Stimme meiner Mutter oder sonst irgendeine, die ich zuordnen konnte. Sie war so leicht und unnahbar, ehrlich gesagt konnte ich nicht ausmachen, ob es eher weiblich oder männlich geklungen hatte. Mit mulmigen Gefühl schloss ich die Augen, ließ jedoch das Licht an.

Nightmare-Ist Angst stärker als Liebe?Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt