Teil 111

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Ihre Miene war wie immer abwertend und trotzdem schien sie erleichtert, mich vor sich zu haben:"Endlich habe ich dich gefunden, Melrose!"
Ich starrte Luna mit offenem Mund an. Wie kam sie hier herein? Sollte sie nicht in der Wohngemeinschaft sitzen und Trübsal blasen? Und warum zur Hölle hatte sie mich gesucht, sie hasste mich doch, oder? "Ja, ja, ich weiß, wir sind keine Freunde.", sie winkte ab und trat näher auf mich zu. "Bleib da stehen!", ich hielt drohend eine Hand zwischen uns und sie hielt in der Bewegung inne, doch wirkte kein bisschen eingeschüchtert. "Kein Grund Panik zu schieben." "Wie kommst du hier rein? Bist du mit Steve zusammen eingebrochen?", ich deutete drohend mit dem Finger auf sie und Luna lachte nur leise auf. "Steve? Was zur Hölle wollte der denn hier?" Ich war komplett überfordert:"Du bist also einfach durch das Kraftfeld gekommen?" Sie sah zur Seite und ich konnte erkennen, wie sich ihre Kiefermuskeln an- und dann wieder entspannten:"Ich war hier schon öfter als du." Ich schüttelte den Kopf:"Von was redest du?"

"Ich mag dich nicht sonderlich, ehrlich gesagt hasse ich deine ganze Familie, aber die Person, die am meisten dafür kann, ist die Königin, deine Tante."
Ich wollte etwas sagen, etwas erwidern, fragen, doch ich war wie gelähmt. Sie wusste von ihr Bescheid. Woher konnte sie so etwas wissen?
"Ja, ich weiß, was du jetzt denkst. Die dumme, kleine Luna, die weiß doch gar nicht, was sie von sich gibt." "Ich weiß, wer Mayra wirklich ist.", flüsterte ich und starrte zu Boden. "Hat das dieser Nightmare, der sich den Menschen verschrieben hat, herausgefunden? Wie hieß er doch gleich?" "Steve.", sagte ich und verzog die Augen zu Schlitzen. "Du kannst unmöglich alles wissen.", sie kam näher auf mich zu und zog sich den Stuhl neben mir hervor, während ich die Tischkante immer noch umklammerte, wie einen Rettungsreifen. "Sie hat damals die Rebellen reingelassen. Sie will mich umbringen, sie ist machtbesessen.", meine Stimme klang kalt. Wieder lachte Luna auf:"Und sie lässt die Unseren zu Scharen hinrichten. Sie kontrolliert alles und jeden, sie kontrolliert mich. Ich muss nach ihrer Pfeife tanzen." "Sie hat ihre eigene Schwester vertrieben, meine Mutter.", sagte ich mit fester Stimme.
Luna strich sich durch ihr Haar:"Sie hat ihr eigenes Kind getötet." "Was?", schoss es aus mir heraus.

"Du hast schon richtig verstanden, Sina Morgen. Sie war deine Cousine." "Wie, was?" Sie betrachtete gelangweilt ihre Fingernägel, als würde sie beiläufig über einen neuen Modetrend reden:"Du hast sie doch sicher gefragt, wer damals die Einkerbung nach dem Angriff verursacht hat, nicht wahr? Und du hast sicherlich keine Antwort bekommen?" Ich nickte, denn mir war auf einmal unglaublich schlecht und das Atmen fiel mir schwer.
"Sina war erst ein paar Tage alt, ihre Geburt wurde noch nicht einmal bekannt gegeben. Du kannst dir sicherlich vorstellen, was für ein Chaos dank den Rebellen geherrscht hat.", sie wartete, doch mehr als zu nicken konnte ich nicht. "Es starben so viele, sie haben ihre Einkerbung für deine gehalten und Mayra hat behauptet, ihre Tochter sei noch zu jung gewesen und dass man ihre Einkerbung wahrscheinlich übersehen hatte. Sie hat geweint, sie hat allen etwas vorgespielt. Sie war es, sie hat ihre Tochter erwürgt und nach draußen in den Wald geschleppt. Die Schuld bekamen die Rebellen. Deine Mutter und du, ihr seid spurlos verschwunden." Ich blinzelte heftig und ließ mir meine Haare ins Gesicht fallen, um meine Tränen zu verbergen:"Wie kann man so etwas tun? Wie kann man sein Kind umbringen?" "Wie kann man überhaupt töten?" Mein Blick wanderte zu Luna und ich sah, wie sie geistesabwesend vor sich hinstarrte. Als sie bemerkte, dass ich sie beobachtete, fauchte sie mich an:"Was? Denkst du, du bist die Einzige, die ohne leiblichen Eltern aufgewachsen ist?" "Was?", meine Stimme klang total erstickt und ich zog mir jetzt auch einen Stuhl hervor und drehte mich zu ihr.

Sie stützte ihren Kopf ab und lachte:"Meine Eltern sind tot, beide, mausetot." "Das tut mir leid." "Meine ganze Familie wurde ausgelöscht, dank den Rebellen. Sie wollten einen Anschlag auf euch ausüben, aber es gab eine Verwechslung und so war meine Familie an diesem Tag dort versammelt.", ihr rannen Tränen herab, "Schon mal etwas von der Familie Mond gehört?" Ich schüttelte den Kopf und sie wischte sich die Tränen weg, um dann aufzulachen:"Wie denn auch? Die gibt es ja nicht mehr, es gibt ja nur noch mich. Ich bin königlich, Melrose, genau wie du, zumindest war ich es, bis sie alle durch das Feuer gestorben sind, alle außer ich. Ich wünschte, ich wäre einfach mit ihnen verbrannt."
Ich wollte sie trösten, ihr helfen, doch ich wusste nicht wie, wie sollte man den Tod denn auch schön reden?
"Das tut mir unglaublich leid.", ich streckte die Hand nach ihr aus, doch sie schlug sie weg. "Mond, Luna, meine Eltern fanden es lustig, mich nach dem Mond zu benennen. Luna Mond, das klingt doch bescheuert!", sie lachte und weiterhin flossen ihre Tränen und versickerten in ihrem Oberteil. "Wir haben ein Fest gefeiert und auf einmal war da überall Feuer. Die Rebellen hatten uns am lebendigem Leib in Brand gesteckt, dabei wart doch ihr ihr Ziel! Ihr solltet an diesem Tag auf dem Gelände feiern, doch ihr habt abgesagt, also haben wir übernommen. Das war so spontan und wir haben uns alle darauf gefreut.", sie holte zitternd Atem, "Mir hat nie jemand beigebracht, wie ich meine Fähigkeiten richtig benutze." Mond, Mond, ich kramte in meinem Gedächtnis, doch der Name kam mir nicht bekannt vor, vielleicht wurde er einfach aus dem Regal aussortiert, so wie die Familie ausgelöscht wurde. "Was wäre denn deine Fähigkeit?", flüsterte ich so leise wie möglich. "In der Nacht sehen, wir konnten die Nacht vor spulen, natürlich lief die Zeit nicht schneller ab, aber es schien so."

Ich schluckte, ich hatte keine Ahnung, wie ich mich verhalten sollte. Ohne ihre Kräfte war Luna nur ein gewöhnlicher Nightmare, das hieß keine Besonderheit, also war sie auch nicht mehr königlich:"Das tut mir so schrecklich leid." "Weißt du, was das Schlimmste ist?", sie machte eine Pause und sah mir durchdringend in die Augen, "Weder dass alle tot sind, noch dass ich kein Ansehen mehr habe, sondern dass ich die bin, die Eine, die überlebt hat, Luna Mond. Weißt du, wie die Nightmares auf diesen Namen reagieren? Sie haben Mitleid und denken sich, die hat wohl einfach Pech gehabt. Wenn mein Name fällt, drehen sich ein paar zu mir um und sehen dann ganz schnell wieder weg. Wahrscheinlich denken sie sogar, die Arme wäre besser dran gewesen, wenn sie auch verbrannt worden wäre. Deshalb benutzte ich meinen vollen Namen nicht mehr, deswegen wissen meine engsten Freunde nicht einmal, wie ich wirklich heiße."
Das überrumpelte mich komplett und ich wusste nicht, was ich noch sagen konnte, außer, dass es mir leid tat.
Nach ein paar ewig langen Sekunden schüttelte sie den Kopf:"Genug von mir, du fragst dich sicher, was ich hier suche." "Ja.", murmelte ich und fühlte mich schlecht, weil ich einfach keinen Weg sah, um ihr zu helfen.
"Mayra erpresst gerne Leute.", sie grinste schief. "Ich- ich weiß.", stotterte ich.
"Mich eingeschlossen, sie wollte, dass ich aufpasse, dass du nichts von deiner Herkunft erfährst. Sie wollte, dass ich mein Wissen für mich behalte und das habe ich getan."

"Warum?", hauchte meine Stimme und ich wusste nicht, was ich gerade alles fühlte. "Ich habe einen menschlichen Bruder.", Luna zuckte mit den Schultern, doch ich spürte, dass er ihr etwas bedeutete. "Menschlich?", wiederholte ich. "Ja, meine Mutter hatte eine menschliche Affäre, natürlich wusste davon fast keiner etwas, doch sie hat Kräuter geschluckt, um ihre Fähigkeiten einzudämmen, um mit ihm zusammen sein zu können." Und wieder einmal war ich fasziniert, wozu die Liebe alles fähig war. Jeder Nightmare hätte sich gegen seine Gefühle gewehrt und Lunas Mutter stand zu ihm, sie hatte ihre Kräfte für ihn vernachlässigt. "Das ist bewundernswert."
"Das war dumm. Natürlich wollte dieser mickrige Mensch auf die Beerdigung meiner Familie und dann ist alles aufgeflogen. Er wurde umgebracht und sie haben das Gedächtnis meines Halbbruders gelöscht. Sie hat es getan, Mayra." "Du liebst ihn, obwohl du ihn kaum kennst." "Ich kenne ihn kein bisschen! Und er weiß nicht mal, dass es mich gibt!" "Trotzdem nimmst du ihn in Schutz.", stellte ich fest. Sie biss die Zähne zusammen:"Würdest du wollen, dass ein unschuldiger Mensch stirbt, nur weil er dein Halbbruder ist? Das könnte ich mit meinem Gewissen nicht vereinbaren." "Und das ist auch gut so, das beweist Charakterstärke." Sie lächelte:"Eigentlich bist du gar nicht so übel, dafür dass du eine Morgen bist." Ich lächelte zurück:"Danke." "Deswegen bin ich auch hier, um dich zu warnen, weil mich mein beschissenes Gewissen sonst wieder nicht schlafen lässt und bilde dir ja nicht ein, dass wir Freunde werden könnten, denn das wird nicht passieren. Übrigens mach dir keine Sorgen, ich kann unbemerkt die Grenze überschreiten, da Mayra mich öfters herbestellt hat, um Bericht zu erstatten.", sie stand schon auf.

"Danke.", flüsterte ich jetzt. "Lass gut sein, du schuldest mir aber was." "Weißt du, wo meine Mutter ist?", ich musste diese Frage einfach stellen. Sie schüttelte den Kopf und sah mich traurig an:"Sie war aber nicht der Typ, der vor Problemen wegrannte." Ihre Gestalt wurde immer kleiner und sie verschmolz schon fast in den Schatten der Bücherregale:"Wie meinst du das?" Sie drehte sich noch ein letztes Mal um:"Ich meine damit, dass deine Mutter ihre Familie nie im Stich gelassen hätte."

Nightmare-Ist Angst stärker als Liebe?Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt