Teil 97

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"Ich soll was?", schrie ich entsetzt. "Du musst nur ihren Kopf manipulieren, mehr nicht; eine kleine Erinnerung, nichts weiter.", Mayra nippte an ihrer Tasse. Ich stand mit hängenden Armen vor meiner Tante:"Das kann ich nicht." "Natürlich kannst du es, sei nicht albern und hör einfach auf meine Anweisungen. Jetzt gib die Nummer ein." Unsicher griff ich nach dem Telefon und setzte mich. Meine Finger zitterten ein wenig, als ich Zahl für Zahl eingab. Mayra stöhnte genervt auf:"Das ist ein Telefonat, Melrose und wenn irgendetwas schief geht, lösche ich ihre Erinnerung daran und mache es selbst, es gibt also keinen Grund zur Sorge." Ich wusste nicht, ob mich diese Aussage beruhigte oder eher noch nervöser machte, doch dann drückte ich auf anrufen, bevor ich einen Rückzieher machen konnte. Ich hörte mein Herz so laut schlagen und befürchtete schon, dass sie es auch hören könnte, doch dann wurde abgenommen. "Melrose, hallo. Wo steckst du denn? Kommst du bald nach Hause, es ist schon spät.", meine Adoptivmutter klang wirklich besorgt. "Ich komme heute nicht, ich schlafe bei Nelli." "Was? Du hast morgen Schule!" Ich biss mir auf die Lippe und sah zu Mayra, die mir zunickte. "Ich werde aber nicht hingehen, ich brauche einfach noch Zeit.", sagte ich mit fester Stimme.

"Zeit, für was brauchst du denn bitte Zeit?" "Das erkläre ich dir morgen." "Melrose, ich lasse dich doch nicht die Schule schwänzen, du kannst am Wochenende gern bei deiner Freundin übernachten, aber jetzt kommst du nach Hause!" Ich blickte zu Mayra, die mir nur ein einzelnes Wort zuflüsterte:"Überzeugen." Ich holte tief Luft:"Du lässt mich übernachten und meldest mich morgen krank." Sie schnaubte:"Jetzt reicht es aber, du kommst auf der Stelle zurück!" Meine Tante schüttelte den Kopf und hatte mir das Telefon mit einer ruckartigen Bewegung aus der Hand genommen und auf Lautsprecher gestellt:"Guten Abend, spreche ich mit der Adoptivmutter von Melrose?" "Was? Wer sind Sie?" Mayra sah mich an und ihre Stimme verlor jegliche Wärme und glich schon fast der eines Roboters:"Sie werden Melrose Morgen in der Schule entschuldigen und sich an nichts weiter erinnern, als der Tatsache, dass sie Zeit mit ihrer Freundin verbringen möchte." Ich starrte den Hörer an und für ein paar Sekunden herrschte drückende Stille, doch dann erklang wieder die Stimme meiner Adoptivmutter und sie klang ebenso monoton wie Mayras:"Ich werde sie krank melden. Richten Sie ihr schöne Grüße aus und viel Spaß mit Nelli."
Meine Tante legte auf und ich war sprachlos. Sie hatte einfach nur zu ihr gesprochen, nichts weiter, ein einfacher Befehl und schon geschah das, was sie wollte. "Wie?", meine Stimme war eher ein Hauch. "Ich denke, viele deiner Fragen werden sich beantworten, wenn wir bei der Morgentanne waren, Liebes." Ich sah vom Telefon zurück auf meine Hände, dann zu Mayra, immer noch entsetzt über die Szene von gerade eben.

Nun fiel mir die Sache mit den Einkerbungen wieder ein:"Wer wurde damals beerdigt, Mayra?"
Es schien, als fiel ihr alles aus dem Gesicht; sie wurde augenblicklich leichenblass und sah weg. "Woher sollen wir das wissen, wir dachten, du wärst im Sarg.", ihre Stimme hatte einen scharfen und schon fast anklagenden Ton, aber davon ließ ich mich nicht abschrecken. "Wer war denn dafür zuständig, irgendjemand muss das doch wissen.", ich ließ sie nicht aus den Augen. Meine Tante stand auf und knallte ihre Tasse auf den Holztisch vor ihr, sodass sie augenblicklich zersprang. "Denkst du vielleicht, ich habe auf alles eine Antwort? Denkst du vielleicht, mir macht es Spaß, über diesen Tag zu sprechen? Immerhin habe ich damals mehr als die Hälfte meiner Familie verloren! Denkst du vielleicht, ich sitze Tag für Tag hier und grübele, wen zur Hölle wir damals beerdigt haben?", am Ende schrie sie und ich zuckte zusammen. Ihre Augen glühten förmlich und dann verließ sie ohne ein weiteres Wort den Raum. Mit einem lauten Scheppern fiel die Tür ins Schloss. Ich starrte auf die Scherben vor mir und die Pfütze, die der Tee gebildet hatte. Was war das denn?

Es kam ein jüngeres Mädchen in den Raum, die Dienstkleidung und Putzzeug trug:"Miss Morgen, das tut mir aufrichtig leid, ich werde das sofort entfernen." Ich dachte, ich hätte nicht richtig gehört:"Das ist doch nicht Ihre Schuld! Lassen Sie mich Ihnen helfen." Ihre braunen Augen wurden groß und sie schüttelte hastig den Kopf:"Sie müssen mir doch nicht helfen! Erik wird gleich bei Ihnen sein und Sie zu Ihrem Gemach führen." "Geben sie mir den Lappen.", ich lachte und sie starrte mich weiterhin komisch an, doch reichte ihn mir dann. Stumm kehrte sie die kaputte Tasse auf und ich wischte den Tee weg. "Wie heißen Sie, wenn ich fragen darf?", ich lächelte das rothaarige Mädchen vor mir an. "Raven." "Freut mich, Raven. Ich bin Melrose." "Ich weiß.", sagte sie lächelnd, "Alle reden von Ihnen." "Duze mich, bitte.", diese Worte mal selbst zu sagen, war irgendwie schon seltsam. Sie nickte:"Ich versuche es."
"Melrose, was machst du denn da?", Erik schlenderte mit den Händen in den Hosentaschen zu uns herüber. "Ich helfe Raven." Er runzelte die Stirn und betrachtete dann das Dienstmädchen:"Ach ja, komm mit, Mayra hat angeordnet, ich solle dich ins Bett bringen." "Du sollst was?", ich fuhr ihn an. "Eigentlich wollten deine Großeltern nochmal mit dir sprechen, doch irgendetwas hat deine Tante sehr wütend gemacht, oder sollte ich eher sagen, irgendwer?" Ich öffnete den Mund, schloss ihn dann aber wieder:"Ich habe nur eine Frage gestellt." "Wahrscheinlich die Falsche. Wie auch immer, wir sollten jetzt gehen." Ich sah zwischen Erik und Raven hin und her, doch keiner beachtete mich wirklich. "Ihr tanzt also alle nach ihrer Nase?" "Melrose!", Erik sah mich mit verengten Augen an, "Sie ist die Königin, natürlich sind wir ihr untergeordnet." "Wir sind doch eine Familie!" "Komm jetzt einfach, dann ersparen wir uns eine Menge Ärger." Mein entsetzter Blick wanderte zu Raven, doch sie sah nicht auf und kehrte einfach weiter, als wären wir nicht da. Ich schüttelte den Kopf und setzte mich in Bewegung:"Ich fasse es wirklich nicht. Das ist doch wie eine Diktatur!" Erik holte mich ein und griff dann nach meinem Handgelenk:"Hör mal zu!" Ich weigerte mich, ihn anzusehen. "Wie alt bist du?", fragte er.
"Alt genug, um zu wissen, dass das verdammt falsch ist!", ich riss mich los, "Ich finde allein zurück."

Nightmare-Ist Angst stärker als Liebe?Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt