Teil 66

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Die Tanne stand in ihrer vollen Größe vor mir und ich sah an ihr hinauf. Jetzt fielen mir all die Einkerbungen am Baumstamm auf und ich fragte mich, wie ich sie vorher nicht hatte sehen können. Der Stamm war übersäht mit Rissen und Linien, die für die Toten einzelner Mitglieder der Familie Morgen standen. "Wunderschön, nicht wahr?", flüsterte eine vertraute Stimme und ich sah zu der Person, die zu mir sprach. Ihr schwarzes Haar glich meinem und sie musterte mich mit einem freudigen Blick. Alisia wandte den Blick ab, griff nach meiner Hand und drückte sie gegen den Stamm. Sofort überkam mich eine Welle von Macht und gleichzeitig auch viel Trauer, Schmerz und Elend. Erschrocken zog ich meine Hand zurück, mein Körper fühlte sich wie betäubt an, oder eher so, als wäre ich aus einem jahrelangen Schlaf erwacht. "Hab keine Angst, Melrose. Du spürst die toten Seelen, die die Tanne auf sich trägt, das sind unsere Vorfahren, du musst sie nicht fürchten, sie wollen dir nur helfen zu verstehen, wer du wirklich bist." Ich sah zu meiner Mutter, aber sie hatte die Augen geschlossen und hielt ihre flache Hand gegen den Baum. "Es kann nichts passieren, außerdem bin ich doch hier, meine Kleine." Ich bewunderte sie für ihre Ruhe und die Leichtigkeit mit der sie sprach und lebte. Auf keinen Fall wollte ich sie enttäuschen, also schloss ich ebenfalls die Augen und ging eine Verbindung mit der Tanne ein. Es war ein fremdes Gefühl. Ich spürte, wie mich die Macht des Baumes übermahnte, es fühlte sich an, als würden einzelne Wellen von ihm aus auf mich übergehen. Meine Hand wurde warm und ich sah die Tanne vor mir, ohne dass ich die Augen öffnen musste. Es war exakt dieselbe, nur ohne all die Einkerbungen. "Siehst du, es ist ganz einfach.", ich drehte meinen Kopf nach links, um Alisia zu sehen. Sie lächelte mich in ihrer wundervollen Art an und fuhr dann fort:"Ich weiß, dass du für Großes bestimmt bist, Melrose, immerhin bist du meine Tochter, aber schon bei deiner Geburt begann die Morgentanne zu wachsen. Sie hatte noch nie eine solche Höhe, bis du kamst."

Ich war gerade dabei den Mund zu öffnen und etwas zu erwidern, aber da wurde ich zurück in meinen Körper katapultiert. Ich sah mich um und fand mich einmal wieder in meinem Zimmer unter der Bettdecke vor. Hastig griff ich an meinen Hals und die Kette war nahezu kochend heiß. Ich öffnete den Verschluss und sah mir den Anhänger genau an, aber es hatte sich nichts verändert, bis auf die Tatsache, dass das kühle Silber jetzt glühte. Allerdings ließ diese Wirkung schnell wieder nach, nachdem ich die Kette abgenommen hatte. Meine Uhr zeigte fünf Uhr sieben an und ich ließ mich wieder zurück ins Kissen fallen. War der Traum vielleicht eine Erinnerung oder wünschte ich mir nur zu sehr, dass die Szene wahr ist? Dieses Mal war meine Mutter nicht verängstigt gewesen und hatte mir auch nicht zugeschrien, ich solle flüchten, es war zum ersten Mal wunderschön mit ihr an der Morgentanne zu stehen. Angestrengt versuchte ich mich an die Details zu erinnern, wie ich mich gefühlt hatte, als meine Hand den Stamm berührte, aber die Gefühle waren wie weggeblasen. Ich legte mir die Kette wieder um den Hals und setzte mich dann ruckartig wieder auf. Die Kette bestand aus Silber. Ich war viel schneller aus dem Bett gesprungen, als dass ich es für möglich gehalten hätte und nahm am Schreibtisch Platz. Paul Silber, meine Kette hatte nicht nur etwas von der Familie Morgen an sich. "Komm schon!", murmelte ich meinem Laptop zu. Als die Suchleiste endlich erschien, hämmerten meine Finger die Buchstaben fast in die Tastatur: Silberne Morgentanne.

Es tauchten einige Artikel und Bilder auf, aber schon das erste Foto fing meine Aufmerksamkeit ein. Darauf war ein Baby zu sehen, das laut der Bildunterschrift ich war. An meinem Hals baumelte eine dünne silberne Kette mit einer kleinen Tanne daran. Automatisch griff ich an den Anhänger, der wieder kühl auf meiner Haut lag. Das Bild gehörte zu einem Zeitungsartikel, den ich sofort durchlas: Grund zur Freude, königlicher Nachwuchs in der Familie Morgen. Gestern Abend kam die kleine Melrose Morgen kerngesund zur Welt. Die Tochter von Alisia Morgen und Paul Silber, und somit die zukünftige Anführerin der Nightmares, trägt als Anerkennung ihrer Eltern eine silberne Kette, die die Morgentanne an sich trägt. Ein großes Fest wird in der nächsten Woche auf dem Herrschaftsgelände der Morgens veranstaltet werden, wozu alle herzlichst eingeladen sind. Lasst uns gemeinsam diese wundervolle Geburt feiern!

Es gab ein riesiges Fest wegen meiner Geburt? Wer auch immer diesen Artikel verfasst hatte, musste eine einflussreiche Person gewesen sein, denn immerhin war Alisias Name hier vorzufinden und das noch in Zusammenhang mit meinem leiblichen Vater. Hier hatte meine Tante Mayra nicht gut genug aufgepasst und wieder einmal stellte sich mir die Frage, warum sie überhaupt dafür gesorgt hatte, dass man nichts über ihre eigene Schwester in Erfahrung bringen konnte. Am besten würde ich sie bald persönlich danach fragen.

Nightmare-Ist Angst stärker als Liebe?Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt