Teil 95

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Jake stemmte die schwere Holztür vor uns auf und winkte uns dann herein. Ich hörte Nelli noch nach Luft schnappen, dann tat ich ihr es wahrscheinlich gleich. Der Raum war wieder unheimlich groß und der Tisch war ebenso lang wie die Wände. Hier hätten locker hunderte von Gästen hingepasst. Die Tischdecke war so schwarz wie die Nacht und das Besteck silbern und mit Gold verziert. Es war nur ein kleiner Teil gedeckt, an dem schon eine kleine Gruppe saß und mich neugierig musterte. Ruhig atmen, befahl ich mir und sah mich lieber wieder im Zimmer um. Die Wände waren in einem dunklen Rot gestrichen, das meinem Oberteil ähnelte und von der Decke hing der wahrscheinlich schönste Kronenleuchter, den ich je gesehen hatte.

"Melrose, setz dich doch.", meine Tante saß am Ende des Tisches und deutete zu ihrer Linken auf den freien Platz, "Du musst ihre Freundin sein, wie heißt du?" Nelli lächelte und ich spürte, dass ihr diese Situation genauso unangenehm war wie mir:"Nelli, eure Hoheit." Ich fragte mich, ob man meine Tante immer so ansprach, da Jara diesen Ausdruck auch schon verwendet hatte, aber mir hatte sie ja gesagt, ich solle sie duzen. "Dann setz dich neben Melrose, Nelli." "Danke sehr.", ich hatte meine beste Freundin noch nie so unsicher erlebt. Jara und Jake hatten ihre Plätze schon eingenommen und Jake saß mir gegenüber. Mayra hob ein Weinglas:"Auf unsere verlorene Tochter, die heimgekehrt ist." Ihr Blick ruhte auf mir und sie verzog die Lippen zu einem seltsamen Grinsen. Ich ergriff ebenfalls schnell das Glas und trank einen viel zu großen Schluck. Alkohol, Melrose, warum denkst du eigentlich überhaupt nicht nach? Ich stellte den Wein schnell wieder beiseite und sah vorsichtig von der Tischkante auf. Mich sahen vier aufmerksame Augenpaare an, die ich nicht zuordnen konnte, ein Junge in meinem Alter mit braunen Haaren, eine Frau, wahrscheinlich so alt wie meine Tante, ein älterer Mann und eine ältere Frau.

Das unbehagliche Schweigen machte mich nervös und ich trank einen Schluck von dem Wasser, das auch noch vor mir stand, doch dann ergriff meine Tante wieder das Wort:"Das ist Erik Morgen." Sie deutete auf den braunhaarigen Jungen und er lächelte mich aufrichtig an. "Das ist Nala Morgen", sie zeigte auf die Frau und dann auf die zwei Älteren, "und das ist Leona Morgen und William Stein, sie sind deine Großeltern."
Fast hätte ich mich beim Trinken verschluckt. Ich stellte das Glas vor mir ab und unterdrückte dann den Husten. Meine Großeltern sahen mich lieb an und dann sprach meine Großmutter zu mir:"Es ist so lange her, dass ich dich gesehen habe, Melrose." Ihre Augen weiteten sich und sie blinzelte heftig. Ich war einfach viel zu geschockt darüber, als dass ich irgendetwas hätte erwidern können. Zum Glück brach Mayra die Stille wieder:"Lasst uns essen, wir haben später noch Zeit für Gespräche und Fragen, aber das auch nicht zu lange, denn Melrose hatte einen sehr anstrengenden Tag."

Das Essen wurde von einer jungen Frau in Dienstkleidung hereingebracht und es gab Suppe als Vorspeise. Es schmeckte einfach nur himmlisch und war nicht mit der Suppe meiner Adoptivmutter zu vergleichen, die meistens einfach nur gekauft war. Die Stille am Tisch bereitete mir ein komisches Gefühl und ich spürte die Blicke der anderen auf mir. Trauten sie sich nicht mich anzusprechen oder dachten sie, ich hätte gerne meine Ruhe? Gerade als ich mir darüber weiterhin den Kopf zerbrechen wollte, ergriff der Junge Erik das Wort und sah mich interessiert an:"War es nicht schwer für dich unter Menschen zu leben? Du musstest doch immer aufpassen, keinen von ihnen zu berühren." Anscheinend hatte Mayra erzählt, wo ich aufgewachsen war. Er löffelte seine Suppe weiter, ließ mich aber nicht aus den Augen und auch der Rest wartete gespannt auf meine Antwort, selbst Mayra sah mich an, während sie an ihrem Getränk nippte. "Ja schon, wir mussten oft umziehen, wegen gewissen Vorfällen.", ich wandte den Blick nicht von Erik ab, der nickend lächelte. Ich bemerkte erst jetzt, dass er strahlend blaue Augen hatte, die mich an Lukes erinnerten, allerdings waren seine Haare dunkler und ganz durcheinander, als wäre er gerade erst aufgestanden:"Kann ich mir gut vorstellen."

Verbann ihn endlich aus deinem Gedächtnis, Merlose! Mein Blick hatte viel zu lange auf Erik geruht und dann wandte ich ihn peinlich berührt schnell wieder ab. Trotzdem konnte ich mich nicht daran hindern, ab und zu einen Seitenblick auf meine Großeltern zu werfen; sie sahen beide total liebenswürdig aus und dennoch ging von ihnen eine gewisse Trauer aus und ich fragte mich, ob das meine Schuld gewesen war, weil ich all die schlimmen Erinnerungen an Alisia wieder aufwühlte. Ich stopfte mir schnell einen weiteren Löffel Suppe in den Mund, aber irgendwie war mir der Appetit vergangen, und das schon bei der Vorspeise. Wieder herrschte unbehagliches Schweigen und ich kam mir vollkommen fehl am Platz vor, auch wenn ich nicht wusste, wie die Abendessen sonst verliefen. Nelli stieß mich unter dem Tisch leicht mit dem Fuß an und ich sah zu ihr. Sie formte mit den Lippen lautlos die Worte: Alles okay? Ich nickte leicht und zwang mich dann zum Weiteressen. Ich spürte den Blick meiner besten Freundin immer noch auf mir und spannte mich noch mehr an. Fühlten sich die Tiere im Zoo so, wenn alle ihre Gesichter gegen die Scheibe drückten?
"Sie haben ein atemberaubendes Schloss.", sagte Nelli schließlich und ich war ihr verdammt dankbar dafür. Mayra strahlte:"Danke, aber du hast noch nicht mal annähernd die Hälfte gesehen, meine Liebe. Was haltet ihr davon, wenn ich euch beide morgen durch alle Säle führen lasse?" Nellis Grinsen hätte nicht breiter sein können:"Liebend gern, eure Hoheit." Jetzt waren wieder alle Augenpaare auf mich gerichtet, also legte ich den Löffel beiseite. "Ja, klingt gut."

Der nächste Gang bestand aus Rollladen und Klößen und eigentlich hatte ich nicht mal genug Hunger, doch trotzdem aß ich so viel wie möglich. Die Stimmung am Tisch hatte sich etwas gelockert und mittlerweile wusste ich, dass Nala, die junge Frau, die Mutter von Erik, dem Jungen, war. Meine Großeltern hatten mich lediglich nach meinen Hobbys und Vorlieben ausgefragt. Kein Wort über die Vergangenheit, kein Wort über ihre Tochter und somit meine Mutter. Am Ende gab es Tiramisu und auch das zwängte ich noch in mich, einfach weil es so gut schmeckte und ich auf keinen Fall unhöflich wirken wollte. Meine Tante stellte ihr Glas vor sich ab:"Ich hoffe euch hat es allen geschmeckt." "Es war sehr gut.", antwortete ich und auch der Rest stimmte mir zu. Jake, der mir gegenüber saß, zwinkerte mir zu, wie wenn er damit sagen wollte, hast du gut gemacht und war doch gar nicht so schlimm. Ich schenkte ihm ein unsicheres Lächeln. "Dann würde ich mal sagen, dass wir uns nun den Gesprächen widmen können, doch zuvor, Erik, würdest du bitte Melrose und unserem Gast ihre Zimmer im vierten Stock zeigen?" "Sicher doch.", antwortete er und erhob sich schon. Ich sprang ebenfalls auf und Nelli rückte ihren Stuhl nach hinten. Mayra hatte mich nicht als Gast bezeichnet, fiel mir beim Herausgehen auf und ich drehte mich nochmal zu ihr um, doch sie leerte nur noch ihr Weinglas in einem Zug, ohne mir weiter Beachtung zu schenken.

Nightmare-Ist Angst stärker als Liebe?Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt