Teil 64

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Nach einer Weile war mein Glas leer und ich wollte nicht wieder von Noel ausgefragt werden, also machte ich mich daran zu verschwinden. Ich zählte das Geld für den Cocktail ab und legte es beim Vorbeigehen auf den Tresen und Noels Kopf tauchte auf:"Gehst du schon?" Ich nickte:"Ich treffe mich noch mit jemandem." "Mit Luke?", er lächelte freundlich, doch ich ließ meine Stimme kalt klingen. "Nein.", dann verließ ich den Laden. Die frische Luft sorgte nur dafür, dass ich den Alkohol spürte. Warum trank ich eigentlich immer wieder, obwohl ich wusste, dass ich nichts vertrug? Natürlich traf ich mich mit niemandem, aber was hätte ich sonst sagen sollen? Ich entschloss mich dazu nach Hause zu laufen, weil ich immer noch genug Zeit hatte. Es war mittlerweile ziemlich dunkel, aber ich brauchte mir ja so oder so keine Sorgen zu machen. Ich steckte meine Hände in die Jackentasche und zog vorher noch meine Kapuze auf. Die Straßenlaternen beleuchteten immer nur einen bestimmten Fleck, bevor es wieder dunkler wurde, heller, dunkler, heller, dunkler. Ich überquerte die Straße und alles wirkte wie ausgestorben, dabei war es Samstagabend. Sollten um diese Uhrzeit abends nicht viel mehr Menschen draußen unterwegs sein? Wahrscheinlich waren die meisten einfach schon in irgendwelchen Diskos, redete ich mir ein. Ich bog um eine Ecke, als ich Schritte hinter mir vernahm. Das bildete ich mir doch nur ein, aber als ich schneller lief wurden auch die Schritte hinter mir mehr. Ich drehte mich um, doch konnte niemanden erkennen. Mein Tempo beschleunigte ich nochmal, das war irgendwie unheimlich; ich fühlte mich beobachtet und konnte nicht sagen von wo.

Ich erreichte die Villengegend und selbst dort wurde ich das seltsame Gefühl nicht los, dass mich jemand verfolgte, oder lag das an den wahrscheinlich hundert Überwachungskameras, die sich gerade auf mich richteten? Für einen kurzen Moment überlegte ich, bei den Wilsons zu klingeln, aber dann würde ich mir wie ein kleines verängstigtes Mädchen vorkommen. Ich schüttelte den Kopf. Du bist Melrose Morgen, ein Nightmare, du brauchst keine Angst zu haben redete ich mir ein und ein bisschen half es sogar. Ich streckte die Brust raus und lief mit erhobenem Haupt weiter, die Hände holte ich aus den Jackentaschen hervor, man konnte ja nie wissen, wann man sie mal gebrauchen könnte. Als ich die Bushaltestelle von mir erreichte, entspannte ich mich, ich würde gleich Zuhause sein. Langsam verschwand auch das komische Gefühl beobachtet zu werden und kurz vor der Haustür rannte ich los. Von irgndwo her hörte ich Schritte, die sich entfernten, aber wieder war nichts zu sehen und so redete ich mir ein, ich hätte mir das nur eingebildet. Die Tür wurde geöffnet und meine Adoptivmutter lächelte mich an:"War es schön?" Ich drehte meinen Kopf von der Straße weg und sah sie an:"Was?" "Ob es bei deiner Freundin schön war." "Ach so, ja, ja war es.", ich zog die Kapuze herunter und schloss dann die Tür hinter mir. "Willst du noch mit ins Wohnzimmer kommen?" "Nein, ich bin müde, ich mache mich jetzt fertig fürs Bett.", sagte ich, während ich meine Jacke und Schuhe auszog. "Gute Nacht!", rief sie noch, bevor sie verschwand und auch mein Adoptivvater rief mir eine gute Nacht zu, was mich wunderte.

Das Erste, was ich in meinem Zimmer machte, war, die Rollläden runterzufahren. Noch nie zuvor hatte ich so ein Gefühl gehabt, als würde mich jemand verfolgen und bei der nächstbesten Gelegenheit hinter einer Mauer lauern. Hing das mit dem Alkohol zusammen? Ich machte mich im Bad fertig und checkte mein Handy. Nellis Namen auf dem Display zu sehen erfreute mich. Es war nur eine kurze Nachricht, in der sie sich erkundigte, ob es mir gut ginge und ob ich schon etwas bezüglich meiner Mutter unternommen hatte. Ich arbeite daran und es geht mir den Umständen entsprechend gut, sendete ich zurück. Stimmte das? Natürlich war ich verletzt wegen Luke, verwundert wegen meines Adoptivvaters und misstrauisch Steve gegenüber, aber körperlich ging es mir gut. Ich hatte meine beste Freundin zurück, die an mich glaubt und mir bei der Suche nach meiner Familie helfen will. Das war auf jeden Fall mehr Positives als in den letzten Tagen. Mein Laptop leuchtete hell auf, als ich mein Passwort eingeben sollte und das tat ich dann auch. Erneut gab ich einen Namen in die Suchleiste ein, aber dieses Mal war es weder meiner, noch der einer lebenden Person. Paul Silber, mein leiblicher Vater. Es sprangen mir mehrere Fotos entgegen, aber ich konnte die Männer ziemlich schnell ausschließen, weil die meisten von ihnen noch lebten. Ich verglich die Jahreszahlen und dann hatte ich meinen Vater vor mir, meinen leiblichen Vater. Auf dem Bild lächelte er und machte insgesamt einen freundlichen Eindruck. Er trug seine dunkelbraunen Haare kurz und hatte strahlend blaue Augen, die irgendetwas Mysteriöses an sich hatten. Vorsichtig fuhr ich mit dem Finger über die Buchstaben auf der Todesanzeige, als hätte ich Angst, sie könnten verwischen. Das ist mein Vater. Mein Vater ist tot.

Nightmare-Ist Angst stärker als Liebe?Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt