Too much Promises - Stray Kids FF, Hwang Hyunjin

Kapitel 81

(Bild von Han Seo)

Konsequenz

Han Seo

Er rief bei Minho an, noch bevor ich reagieren konnte. Die Leiche hatte meine Aufmerksamkeit zu sehr auf sich gezogen, als dass ich ihm Beachtung schenken könnte. Der Körper des Jungen brannte sich in mein Kopf. Meine Augen konnte ich nur schwer von ihm nehmen. Meine Gliedmaßen schienen wie eingefroren. Ich konnte es nicht vermeiden, dass ich direkt an meinen Vater denken musste... An ihn. An Changbin. Mich überkam ein Unwohlsein. Hatte sich Changbin etwa genauso gefühlt, wie ich es jetzt tat? Hilflos... Nutzlos... Es fühlte sich ja nicht einmal real an... Hatte er auch so Angst, wie ich jetzt? Ich musste hart schlucken. Das Blut floss noch immer, während Chan auf Jungkook sah. Er wartete auf Minho. Als wäre es etwas ganz normales... Als wäre es rein gar nichts... Mein Brustkorb zitterte, mein Körper allgemein aber... Hielt still. Das Leben des Jungen wurde genommen. Das ging so schnell. Von jetzt auf gleich. War mein Vater schneller als Chan es war? Erinnerungen schossen mir durch den Kopf. Ich wollte sie nicht sehen. Aber... Sie brachen auf mich ein. Wie eine Lawine... Sie übernahmen mein Gehirn und meine Augen. Ich konnte nichts anderes mehr sehen außer meinen wütenden Vater. Außer mein heulendes Ich. Außer meinen hilflosen Bruder. Außer meine schreiende Mutter... Ich hielt mir die Hände an den Kopf. Meine ganze Welt begann sich zu drehen. Wieso verschwanden die Bilder nicht? Wieso konnte ich nicht auf Chan achten? Wieso löste sich meine Konzentration wie in Luft auf? Ich spürte, dass ich schneller zu atmen begann. Für eine Sekunde kämpfte ich mir dem Gedanken, Changbin anzurufen. Doch, nein. Das Leid würde ich ihm nicht zumuten. Den Anblick wollte ich ihm ersparen. Aber wer versuchte mich vor solch einer Situation zu schützen? Warum konnte ich davor nicht einfach bewahrt werden? Weshalb musste ich ständig mit den aggressivsten Szenarien auskommen? Ich hustete, weil meine Atmung sich überschlug. Im nächsten Moment hielt ich jedoch die Luft an, da er da war... Minho. Als hätten wir nur auf ihn gewartet. Er zögerte gar nicht groß. Es war, wie... Er war der einzige, der einen kühlen Kopf beibehalten konnte. Er nahm Chan in den Arm, bevor er ihn vorsichtig von der Leiche zog. Den Puls gemessen, bekam er seine Bestätigung. Er fragte gar nicht viel nach. Er fragte eigentlich gar nichts... Er sah zu mir hoch, denn er war hingekniet. Ohne zu überlegen oder mir noch etwas mehr Zeit zu geben... Griff er nach meiner Hand und zog mich zu sich runter. Um zu reagieren, war mein Körper und mein Verstand noch viel zu betäubt. Ich spürte, wie ich mich unterbewusst abhörten wollte. So wie damals, als ich zu schweigen begann...

„Keine Polizei, okay?", nickte Minho, worauf er meine Hand losließ.

Er griff nach meiner Schulter. Seine Augen waren glasig. Ich glaubte... Er wollte weinen. Genauso wie Chan weinte und ich... Den Drang danach hatte... Auch einfach zu weinen.

„Chan und die Polizei... Das würde nicht gut enden... Wir suchen uns einen anderen Weg, ja? Du musst mir aber jetzt vertrauen..."

Vertrauen? Ich sah in seine Augen und er atmete zittrig aus.

„Ich sehe, dass du deine Zeit brauchst und was dir auf deiner Seele brennt"

Wusste er er? Er wusste es nicht... Nur Changbin wusste es.

„Aber, bitte... Lass uns das erstmal gemeinsam regeln. Bitte..."

„Mister Seo...", sprach eine Stimme zu mir.

Ich wurde aus meiner Erinnerung gerissen. Hochgesehen, blickte ich direkt in seine Augen. Zu der Stimme, die zu mir sprach. Es war... Der Vater von Minho. Mister Lee...

„Sie können mich nicht ewig anschweigen, während Sie es waren, der mich anrief..."

Ich spitzte die Lippen, bevor ich den Kopf senkte. In meinem Kopf wütete der aggressivste Tornado. Ich wusste gar nicht, wo ich anfangen sollte. Worüber ich klagen sollte. Hätte ich mit meinen unnötigen Unsicherheiten anfangen sollen? Darüber, dass ich... Konfrontiert wurde? Mit einem Mord... Einem Toten... Blut... Erinnerungen... Dass ich... Alleine hier saß, ohne Changbin? Dass ich irgendwie gezwungen werde zurecht zu kommen? Oder sollte ich mit Minho anfangen? Minho, der mich darum gebeten hatte. Er bat mich darum... Nicht die Polizei zu rufen. Jetzt tat ich es. Sollte ich nun schweigen? Aber... Wieso, fragte ich mich. Wovor hatte er Angst? Wieso mussten wir schweigen? Oder... Lügen? Warum konnten wir alle nicht sagen, was wirklich geschehen war? Dass es Chan war, der jemanden erstochen hatte? Ich musste mir über die Lippen lecken. Ich glaubte, dass ich ein bisschen verwirrt war. Der eine... Sprach nämlich von Notwehr, der andere aber von einem Kontrollverlust. Dann war da Jisoo, die den Verstand verlor und Hyunjin, der auf einmal auch eingeweiht wurde. Das ganze wurde mir zu viel. Ich hatte das Gefühl, ich verlor den Bezug zur Realität. Ich hatte das Gefühl, ich vergaß, was wirklich geschehen war. Als würden sich die Bilder in meinem Kopf in Luft auflösen... Nein, sie verformten sich. Als wollten sie mir eine ganzen andere Geschichte erzählen, dabei wusste ich doch genau, was geschehen war. Man konnte nicht meinen, ich war von Anfang an dabei, nein. Aber ich sah das Entscheidende. Ich konnte sehen, wie wütend beide aufeinander waren. Wie Jungkook das Messer hervor nahm und Chan ihn mit diesem Messer... Ich musste mir an den Kopf fassen, denn ich wollte den Gedanken nicht ausführen.
Zeitweise hatte ich Angst, ich könnte nicht mehr reden. Ich hatte Angst davor, dass mir dasselbe passieren würde, wie... Vor 10 Jahren. Ich hatte Angst, mir würde die Sprache wegbleiben, aber... Sie war noch da. Sie war da... Ich wusste es, weil mich der Drang zum Reden in einigen Momenten überkam. Ich musste die Augen schließen. Was tat ich denn nun? Sollte ich mich, nachdem ich die Polizei bereits anrief, auf Minho's Seite schlagen und für ihn erstmal dicht halten? Aber ich verstand nicht, wieso. Wenn er die Meinung vertrat, Chan hätte sich selbst nur gewehrt, sollte er mich doch einfach reden lassen oder wovor hatte er Angst? Bekam er Angst davor, ich könnte meinen, er hätte sich nicht selbst gewehrt? Ich musste offen und ehrlich zugeben, dass... Je länger ich über das Geschehen nachdachte, ich nicht sagen konnte, was Wirklichkeit war und was nicht... Ob Chan sich wirklich selbst wehrte oder nicht. Ob ich ihn in Schutz nehmen sollte oder nicht...