(Bild von Jisoo Chaehyoung)
Auseinander gefallen
Jisoo Chaehyoung
Ich setzte mich wieder auf den Stuhl. Auf den Stuhl, neben Jennie. Völlig verwirrt... Ich hielt mir den Kopf, weil er anfing zu schmerzen.
„Was sagst du?", fragte ich mit großen Augen.
Mein Herz stand still.
„Du hast ihn gehört", sprach Changbin für Han und drückte ihn auf den Stuhl. „Und... Richtig verstanden."
Nachdem Changbin das sagte, brach eine unangenehme Stille aus. Als wäre die ganze Situation an sich nicht bereits überfordernd oder die Informationen, die mir, nein, der Gruppe übermittelt wurden. Das war soviel, dass ich mir durch den Kopf gehen lassen musste. Realisieren musste... Verarbeiten musste... Ich fühlte mich fast, wie zu dem Zeitpunkt, als... Als Felix starb. Es war geschehen, aber ich konnte es kaum realisieren. Ich war traurig und wütend, aber konnte es nicht greifen, obwohl ich ja glaubte, dass es passierte. Was konnte ich tun? Was, damit das Gefühl nachließ? Was konnte ich tun, damit die Welt nicht mehr böse Nachrichten hinterließ? Was, damit... Der Schmerz endlich nachließ? Meine Atmung setzte für einen Moment aus. Han und Changbin versuchten mir gerade zu sagen, dass... Sie misshandelt wurden. Von ihrem Vater. Wollte mir Han das sagen? Changbin? Mein Herz zog sich schmerzerfüllt zusammen. Ich wusste ja immer, dass ihr Vater ein schrecklicher Mensch war, aber... So schrecklich? Wie konnte beide das einfach sagen, obwohl sie es nicht mussten? Einfach so? Etwa... Um mir das Gefühl zu geben, nicht alleine zu sein? Dafür... Opferten beide solch ein großes Geheimnis? Und dann kam es als allererstes von ihm... Von Han Seo. Ich wandte meine Augen nicht von ihm ab. Während er? Er sah auf den Boden, auf dem es nichts zu sehen gab. Er sagte die Wahrheit... Er war ehrlich gewesen. Ihr Vater... Er tat ihnen weh. Genauso, wie... Ich musste hart schlucken. Mein Vater ihm weh tat. Meinem Bruder... Ich musste ehrlich zu mir selbst sein. Ehrlich, wie ich es nicht immer war. Die Tatsache, dass mein Vater Dinge tat... Die er nicht tun dürfte... Das schockierte mich nicht. Zumindest nicht im ersten Moment. Wie sollte ich das erklären... Ich hatte es ihm zugetraut. Ich hatte meinem Vater zugetraut böse Dinge zutun, aber ich hatte es nicht kommen sehen. Oder... Ich wollte es nicht kommen sehen. Es fing nämlich an Sinn für mich zu ergeben. Das alles... Mir wurde endlich erklärt, weshalb... Wieso Chan immer bevorzugt wurde. Warum jedermanns Bedürfnisse ganz hinten standen, die meines Bruders aber nicht. Wieso Chan nie länger als eine Nacht im Haus fehlen durfte, weil sonst gefühlt die Welt unter ging. Weshalb er sich nie Hilfe holen durfte, als er so viele Probleme hatte. Obwohl... Er es nötig hatte. Ihm wurde es verboten. Immer. Es wurde ihm so verkauft, als hätte er es nicht nötig. Ich zog die Augenbrauen zusammen, weil immer mehr Dominosteine zu fallen schienen.
Ich verstand nun, warum Chan war, wie er war. Er sehnte sich nicht nach der Aufmerksamkeit, um im Mittelpunkt zu stehen. Er schrie um die Aufmerksamkeit, immer im negativen Sinne, weil er anders nie gehört wurde. Mein Bruder brauchte Hilfe und wir alle konnten das nicht sehen. Nicht, als er sich selbst verletzte. Nicht, als er sich mehrmals versuchte so doll zu verletzen, dass es unter der Kategorie Selbstmordversuch fiel. Nicht, als er anfing um sich zu schlagen, wie ein Besessener. Nicht, als er so wütend wurde, dass man ihm alles hätte zutrauen können. Nie. Es wurde nie gesehen. Nie hinterfragt. Chan wurde nie angehört. Niemand wollte ihm je zuhören.
Mein Herz fing an zu schmerzen, denn ja. Ich verstand es nun. Er stand immer im Mittelpunkt, paradoxerweise tat er es aber auch nicht. Chan zog das Böse immer an. So sagte ich das. Dabei... Zog das Böse Chan an. Mein Bruder hörte nur auf sich dagegen zu wehren. Woran ich das merkte? Es zeigte sich doch immer wieder. Angefangen beim Amoklauf... Bei Jeongin, um genau zu sein. Seine Schusswunden. Sein Gefängnisaufenthalt. Felix' Tod. Jungkook's Tod. Er beließ es einfach dabei. Er beließ es immer dabei. Weil er glaubte, es lag an ihm. Weil er glaubte, er verdiente es. Schließlich stand keiner hinter ihm. Keinen interessierte, was er zu sagen hatte, denn alle glaubten... Das war er. Es gehörte zu ihm. Das Böse... Schuldgefühle kamen in mir hoch. Dabei... Lag es an ihm. An Meinen... Vater. Ich spürte, wie mir danach war, mich zu übergeben. Der Gedanke, er hatte... Er hatte... Hatte er wirklich? Es war so logisch. Es erklärte sich mir so viel dadurch. Aber. Wie konnte er? Wie konnte er seinem eigenen Sohn, seinem Fleisch und Blut, so nahe treten? Während er... Ein Kind war? Woher wusste Chan das eigentlich? Wusste er das schon vorher? Ahnte er es? Wie konnte er das so lange für sich behalten? Erfuhr er es erst... Vor kurzem? Ihm lag so viel an unserer Familie... War er traurig? Wütend...? Verletzt? Hatte er sich was getan? Ich schlang die Arme um meinen Körper. Ich hasste mich gerade so sehr. Wieso hatten Chan und ich nie geredet? Nie versucht... Uns wie Geschwister zu behandeln? Zu fragen, wie es dem anderen ging? Uns... Zu unterstützen? Wieso hatte ich ihn nie gesehen? Nie wahrgenommen... Was mit ihm war? Was... Mit unserem Vater war? Dieser... Ich hatte es gewusst. Gewusst, dass etwas an ihm nicht stimmte! Ich hasste ihn nicht grundlos. Meine Hände ballte ich zu Fäusten. Hatte er... Tat er mir dasselbe an? Oh... Eine Gänsehaut überkam mich. An was ich denken musste... Ich schloss für einen Moment die Augen. Nein... Er hatte mir nichts getan. Dafür behandelte er mich nicht so, wie er Chan behandelte. Ein ungutes Gefühl kam in mir auf. War das etwa Wut? Wut, die ich gegenüber meinem Vater verspürte, weil er immer alles versuchte kaputt zu machen? Das Verhältnis zwischen meinem Bruder und mir? Meine Mutter? Meinen Bruder! Er hatte Chan gebrochen. Sah man ihn doch an! Es erschrak mich, dass er daran die Schuld trug. Dass er es war, der Chan zu dem machte, der er war. Ich fühlte mich eklig. Eklig für Chan. Wie konnte es mein Vater wagen so... So widerlich zu sein? In unserem Haus?! Tränen bildeten sich in meinen Augen. Er zerstörte alles. Unsere Leben... Es war immer schwer wegen ihm. Sah man sich an, was er Chan antat, weil er ihn aus seiner Therapie zurück haben wollte? Was tat er meiner Mutter an, weil er ging? Ich biss die Zähne aufeinander. Es war auf der einen Seite so unglaublich. Das... Was Changbin hier einfach reinwarf. In einem Gespräch, dass Han und mein Bruder geführt haben sollten. Aber ich sah keinen Sinn darin, wieso sie lügen sollten. Es war mein Vater. Der... Der alles in meinem Leben zerstörte. Der... Meine Familie zerstörte. Die Familie, die bereits in Trümmern lag.
Ich atmete aus, weil ich erneut begann zu verstehen. Ich verstand, wieso Chan es ihm erzählte. Wieso Chan ihn um Hilfe bat. Wieso er ihm vertraute, obwohl mein Bruder nie irgendwem vertraute. Die Seo Brüder hätten nämlich niemals einfach nur gelauscht, was Chan zu sagen hatte, ohne aktiv zu werden.
Ich hielt mir den Kopf. Das war schrecklich. Das waren fürchterliche Nachrichten. Ich musste zu ihnen sehen. Zu den Seo Brüdern... Dabei realisierte ich, dass sich die Tränen in meinen Augen bildeten und bereits flossen. Erschrocken griff ich nach meiner Wange. Ich weinte... Natürlich weinte ich. Mein Herz schmerzte. Nein, mein ganzer Körper tat weh... Ich erschrak ein weiteres Mal, als sich ein Arm um mich legte. Ich musste nach links sehen, um erkennen zu können, wer es war, der nach mir fasste. Es war Jennie. Jennie, die nun auch ihren zweiten Arm um mich legte. Sie drückte mich an sich ran, wobei sie ihren Kopf auf meine Schulter ablegte. Und ganz ehrlich? Ich war noch nie so erleichtert über eine Umarmung. Ich spürte, wie meine Tränen stärker zu fließen begannen, als ich meinen Kopf auf ihren legte. Sie war hier... Jennie war hier und für mich da. Ich war nicht alleine. Minho war hier... Die Seo Brüder waren hier... Ich war nicht alleine, nein. Ich litt nicht alleine. Ich musste das nicht alleine durchstehen. Nicht so, wie ich alles sonst immer alleine durchstehen musste...
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Too much Promises - Stray Kids FF, Hwang Hyunjin
Teen Fiction*wird demnächst auf Rechtschreibfehler überarbeitet* „Das sind zu viele Versprechungen, Hwang Hyunjin." „Und ich werde mich an jedes Einzelne halten." *** ...