Kapitel 90

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(Bild von Chan Chaehyoung)

Anfall

Woojin Kim

Sobald wir aus der Metalltür raus waren und somit auch aus der Mensa, warf Chan meinen Arm von seiner Schulter. Er hatte schwer ausgeatmet, fing allgemein an schwer zu atmen. Er schwankte auf die linke Seite. Ich dachte, er würde fallen und war daher bereit dazu gewesen, ihn aufzufangen. Es schien aber, als hätte er für einige Sekunden einen Schwächeanfall gehabt, bevor es ihm wieder besser ging. Er fing an zu gehen. Lief gezielt auf eine Richtung zu. Es war unsere Zelle, die er aufsuchte. Ich ging direkt hinterher, nicht genau wissend, weshalb. Mir erschien es, als müsste ich bei ihm sein. Chan stieß mit seiner Schulter gegen die Eisenstangen unserer Zelle, worauf er hinein stolperte. Er wirkte, als wäre er betrunken. So, wie er da ging... Da stand... Um sich sah... Sein Brustkorb ging auf und ab, in sehr unregelmäßigen Abständen. Auf einmal fing er an zu knurren, bevor es schließlich geschah. Er verlor die Kontrolle über seinen Körper. Oder, aber... Er wollte seine Emotionen freien Lauf lassen. Wie ich damals, als ich erfuhr, dass sie tot waren... Meine Eltern.
Chan hatte seine Fäuste geballt. Er fing an um sich zu schlagen. Angefangen mit dem Hochbett von ihm und mir. Er trat auf das große Gerüst ein, ohne eine Pause einzulegen. Er riss unser Bettzeug zu Boden, ging hinüber auf das Hochbett unserer Zellengenossen, wo er genau dasselbe tat. Er rüttelte an den Hochbetttreppen so kräftig, dass ich vermutete, das Gerüst würde auseinander fallen. Den einzigen Stuhl, den wir in unserer Zelle hatten, verschonte er auch nicht. Er holte nämlich mit dem Stuhl aus und donnerte diesen einige Male gegen wand und Boden. Immer und immer wieder, bevor er schwerer ausatmete als zuvor. Er warf es beiseite. Seine Hände fanden seinen Kopf, sein Körper den Boden. Er fiel auf die Knie. Inmitten des Chaoses... Chan fing an den Kopf zu schütteln. Das Kopfschütteln wurde immer heftiger, bevor er wieder ausholte. Es waren dieses Mal seine Fäuste, die er wechselhaft gegen den Boden schlug. Mit Schwung... Fest... Bis seine Knöchel rissig wurden und bluteten... Ich wusste nicht, wie ich seinen Zustand beschreiben sollte. Es fühlte sich an, als hätte ihm jemand den Boden unter den Füßen gerissen. Ich erkannte die Tränen in seinen Augen, während er mit hervor gepresstem Atem nicht daran dachte, aufzuhören. Mein Herz zog sich zusammen. Wie von selbst trugen mich meine Beine zu ihm. Ich kniete mich zu ihm runter. Vielleicht wusste ich nicht, wie sich sein Zustand beschreiben ließ, aber ich wusste, was ich damals hätte gebrauchen können. Es war eine Umarmung...
Deshalb... Legte ich meine Arme um seinen Körper. Ich spürte, wie er aufhörte wie ein Wilder auf den Boden zu schlagen, nur weil er sich wehren wollte. Er wollte mich von sich drücken, aber ich blieb stur. Ich verstärkte den Griff um ihn, bis er nachließ, denn ich hatte es im Gefühl, dass er nachlassen würde und das tat er... Sein Körper war schlapp geworden, bevor er einmal stark ausatmete und sie ihn übernahmen. Seine Tränen. Ich sah sie nicht, nein, aber ich spürte, wie sein Rücken vibrierte. Ich biss meinen Kiefer aufeinander. Ich musste automatisch an das eine Buch zurückdenken, dass ich für meine Abschlussprüfung lesen musste. Den Titel des Buches hatte ich vergessen, aber ich erinnerte mich noch genau an die Geschichte, weil sie mich damals so berührte. Es ging um einen kleinen Jungen, der die Nachkriegszeit miterlebte. Es ging darum... Wie er die Scherben der Welt mit aufsammeln musste. Die Scherben seiner Familie. Es ging darum, dass er nach dem Sinn seines Lebens suchte, indem er mit Gleichgesinnten auf die Suche ging. Er fragte sich stets, weshalb er so traurig war, wenn es seine Freunde nicht waren. Am Ende des Buches stellte sich heraus, dass es nicht die Nachkriegszeit war, die ihn traurig machte. Nicht der Zustand der Welt, nicht das Trauma seiner Familie. Es stellte sich nämlich heraus, dass er ein Vergewaltigungskind war und in seiner frühkindlichen Phase vom selben Mann, der seine Mutter nötigte, genötigt wurde. Das waren Erinnerungen, die er verdrängte. Tief in seinem Inneren verbarg. Nicht ausgraben wollte... Der Grund für seine Trauer, die ihn in den Wahnsinn trieb. Solange in den Wahnsinn trieb, bis er wusste, warum. Schließlich fühlte der Junge eine Erleichterung. Eine Erleichterung, weil er endlich wusste, was los war. Zugleich waren für ihn aber neue Probleme entstanden. Es war ein stetiger Zwiespalt, mit dem er sich auseinandersetzen musste, bis er sich das Leben nahm...
Chan in meinen Armen... Fühlte sich an wie der Protagonist aus der Geschichte, die ich las. Deshalb konnte ich genau fühlen, was er fühlte. Eben, weil ich es gelesen hatte... Weil ich vor fünf Minuten dabei war... Weil ich ihn bereits erlebte und jetzt erleben durfte... Mein Brustkorb brannte bei diesem Anblick, obwohl es das nicht sollte. Aber es war menschlich. Ich war menschlich. Natürlich empfand ich für ihn, wie ich empfand. Wie konnte ich nicht...
Allmählich ließ ich locker, denn die angespannten Arme um Chan hielt ich nicht mehr aus. Ich konnte seine blutverschmierten Hände sehen, die in seinem Schoß ruhten und zitterten. Sein Körper war ruhiger geworden. Ich vermutete, dass er nicht mehr weinte, aber sein Atem ging noch ziemlich schwer. Also blieb ich so sitzen. Bis er nicht mehr wollen würde. Bis Chan Chaehyoung mich nicht mehr um sich brauchte. Richtig...

Too much Promises - Stray Kids FF, Hwang HyunjinWo Geschichten leben. Entdecke jetzt