Kapitel 103/ 3

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(Bild von Chan Chaehyoung)

Das Urteil III

Jisoo Chaehyoung 

Ruhig auf meinem Platz gesessen, gab es in den bisherigen zwei Stunden noch nicht einen Moment, an dem ich das Gefühl hatte, ich musste etwas äußern. Oder fühlen... Ich wusste nicht... Warum und weshalb oder woran es lag, nur... Fühlte ich mich den ganzen Tag über, als wäre ich nicht ganz anwesend. Ich war umgeschaltet, auf einen Modus, den ich von mir so nicht kannte. Ich war körperlich bei der Gerichtsverhandlung gewesen, ja, doch geistig? Geistig war ich nicht da. Ich konnte nicht realisieren, dass sie bereits stattfand. Dass ein Knoten nach dem anderen gelöst wurde und man jeden Fall bearbeitete. Dass ich mit meinen Eltern, meinen Freunden, Fremden und meinen Feinden in einem Saal saß. Das musste ich noch verarbeiten, obwohl ich bereits eine Weile hier saß. Die Gespräche und Aussagen gingen an mir vorbei, wie es der Wind tat. Ich fühlte mich leicht benebelt, als stände ich unter dem Einfluss von Drogen, was ich nicht tat! Ich konnte schlicht und einfach nicht erklären, woran es lag. Vermutlich war es ja ein Schutzmechanismus meines Körpers, um meine Psyche zu schützen. Vielleicht wurde mir der Tag zu viel. All das... War eventuell belastend, weshalb ich unbewusst nach einer Lösung suchte. Im Endeffekt war es egal, woran es lag... Sobald ich nämlich folgendes hörte, schien ich auf einmal erwacht zu sein.

„Ich plädiere auf Unzurechnungsfähigkeit."

Als wäre der heutige Tag nicht schon langatmig genug gewesen, hörte ich, wie die Stimme meines Bruders genau das sagte. Das schaltete direkt einen Knopf bei mir um. Ich schien plötzlich wieder ich zu sein. Ich fühlte meinen Kopf und mein Herz. Ich spürte die Emotionen, die mich übernahmen. Die erste dabei war... Die Verwirrung. Ja. Tatsächlich war es die Verwirrung. Denn ich fragte mich... Er wollte auf was plädieren? Unzurechnungsfähigkeit? Wollte er etwa sagen, dass er, zu dem Todeszeitpunkt von Jungkook, psychisch nicht er war? Vor aller Augen traute er sich das zu sagen? Hatte er denn keine Angst, man könnte ihn nicht mehr ernst nehmen? Oder... Wollte er lügen und behaupten, er stand unter dem Einfluss von Drogen? Der ganze Saal wurde mit einem Schlag unruhig und schien sich sicherlich dasselbe zu fragen, wie ich... Minho neben mir, der sah die ganze Zeit über schon leicht gestresst aus, nur jetzt? Jetzt wirkte er, als wäre er gar nicht erst mitgekommen. Jennie, die rechts von mir saß, sie ebenfalls. Auf den Rest in unserer Reihe hatte ich den Blick nicht, weshalb dieser auf ihn fiel. Meinen Vater... Er saß angekettet neben den Polizisten auf der Fensterseite. Er hob etwas erschrocken den Kopf, als Chan das sagte. Wieso war er erschrocken, fragte ich mich. Die ganze Zeit über war er unauffällig gewesen. Sein Kopf war gesenkt und still war er auch. Inzwischen... Was? Was hatte ihn aufmerksam werden lassen? Ich spürte, wie der Ekel und die Wut sich in mir breit machten. Ich wollte wissen, wieso? Warum wurde er hellhörig? Mochte er nicht, was Chan da sagte? Es war egal, was er dachte oder was seine Gründe waren! Mich sollte es nicht interessieren! Ich nahm den Blick von ihm ab, um mich nicht in meiner Wut ihm gegenüber zu verlieren. Er sollte sich lieber auf sich selbst konzentrieren, denn... Er würde noch sehen, was er davon hatte. Welch Konsequenzen ihn erwarteten und was heute für Entscheidungen über ihn oder Chan getroffen werden würden. Weil... Heute? Heute siegte die Gerechtigkeit!

„Ruhe bitte!", rief die Richterin und schlug ihren kleinen Hammer auf den Pult.

Sie tat es so lange, bis alle ruhig wurden. Schließlich blickte sie in die Richtung meines Bruders, der für die Unruhe erst sorgte.

„Sie brauchen für diese Aussage einen Anwalt, Mister Chaehyoung. Aber, bitte... Sie dürfen das gerne erstmal erläuterten."

Obwohl ich das nicht sollte... Drehte ich mich auf meinem Stuhl zu ihm. Zu Chan. Wie ein kleines Kind... Nicht nur, weil ich ihn sehen und beobachten wollte. Ich musste nämlich zugeben, dass er mir fehlte. Soviel Leid Chan auch mit sich brachte... Er war dabei immer ein Teil meines Lebens gewesen. Dass er plötzlich nicht mehr da war... Machte sich jeden Tag bemerkbar, heute aber besonders. Lag es daran, dass ich ihn in dem Saal als Anwesenden fühlte? Dass ich die Chance hatte ihn zu sehen? Dass ich seine Stimme hörte? Es waren nur sieben Tage vergangen, in denen ich ihn nicht sah, nur fühlte es sich an wie eine Ewigkeit. Natürlich... Wir lebten zusammen und liefen uns täglich über den Weg. Dabei war egal, wie bröckelig die Beziehung zwischen uns beiden manchmal auch war. Ich liebte meinen Bruder... Und dass ich ihn jetzt sehen konnte, löste eine innerliche Ruhe in mir aus. Ich konnte sehen, wie er zurückgelehnt auf seinem Stuhl saß und seine Beine locker nach außen fielen. Diese Ruhe bei seinem Anblick, der hielt nur leider nicht lange, weil ich all die Polizisten in seiner Nähe sah... Mit ihren großen Gewehren... Waren sie bereit... Ihn anzuschiessen... Wenn es sein musste... Ich schluckte. Zu sehr erinnerten mich die großen Teile an den schrecklichsten Tag meines Lebens. An den Amoklauf...

Too much Promises - Stray Kids FF, Hwang HyunjinWo Geschichten leben. Entdecke jetzt