Kapitel 73

142 16 5
                                    

(Bild von Seungmin Kim)

Ein Wunsch

Woojin Kim

„Und? Was hast du dir gewünscht?", musste ich schmunzeln, als er die Kerzen seines Geburtstagskuchens auspustete.

Ich wusste, dass mir nicht danach war zu lächeln, genauso wenig wie ihm. Uns beiden war nicht danach. Das lag daran, weil wir beide nicht über den Tod unserer Eltern hinweg waren. Der war ja auch erst ein halbes Jahr her... Sollte ich aber deshalb den Geburtstag meines Bruders vernachlässigen? Er war heute siebzehn geworden! Ihm würde der Kuchen, sein Lieblingskuchen, eventuell sogar eine Riesen Freude bereiten. Aber, wenn ich ihn mir so ansah... Machte es nicht den Eindruck, als hätte er Freude. Er trug dasselbe Gesicht, dass er jetzt bereits ein halbes Jahr trug. Das Gesicht, dass müde wirkte. Traurig... Das Gesicht, dessen Mundwinkel nur nach unten hingen und sich nicht ein einziges Mal hinauf ziehen ließen. Ich hatte so sehr gehofft, dass es sich jetzt ändern würde. Wenigstens für einen Augenblick...

„Dass sie wieder zurückkommen.", kam es von ihm, als er nickte.

Sofort verschwand mein Lächeln.

„Seungmin..."

Mein Herz zog sich zusammen. Er hatte unsere Eltern gemeint... Natürlich hatte er das. Natürlich bezog sich sein Wunsch auf sie. Auf wen denn sonst?

„Ist doch egal", schüttelte mein Bruder den Kopf. „Was soll der Scheiß überhaupt? Sind wir nicht irgendwie schon zu alt für so einen Mist?"

Er erhob sich. Mit großen Augen sah ich zu ihm hinauf. Ohne mich nochmal anzusehen, ging er an mir vorbei. Eine eiserne Kälte blieb zurück. Ich hielt mir auf der Stelle die Stirn, fing an sie zu reiben. Schon wieder hatte ich für eine Verschlechterung gesorgt, anstelle für eine Verbesserung zu sorgen. Es war nicht, als würde ich nicht leiden. Ich wollte aber stark sein, damit es Seungmin besser ging. Meinem Bruder... Nur ich machte die Erkenntnis. Es half wohl gar nichts. Meine Hand führte von meiner Stirn über mein ganzes Gesicht. Die Enttäuschung spürte ich bis ins Knochenmark. Mein Körper fühlte sich mit einem Mal schwer. Ich wollte mich am liebsten ins Zimmer sperren und nie wieder rauskommen. Laut schreien. Vielleicht weinen... Denn, ja. Ich war auch nur ein Mensch mit Gefühlen, den man aber einfach nicht berücksichtigen mochte. Nicht wollte... Ich schloss die Augen, atmete aus. Wann würde es endlich einfacher werden? Wann...

„Woo?", hörte ich seine Stimme wieder und öffnete die Augen.

„Hm?", war das einzige, dass ich rausbekommen konnte.

Obwohl er mich Woo nannte. Er tat das nur, wenn alles in Ordnung war und dennoch. Ich war wie ausgeknockt. Körperlich und seelisch, aber vor allem seelisch...

„Ich nehme meinen Wunsch zurück.", sagte er und ich nickte, während ich meine Hand von meinem Gesicht nahm.

„Okay."

Ich sah auf den Tisch und fokussierte den Kuchen. Den Käsekuchen...

„Willst du nicht wissen, was ich mir stattdessen wünsche?", gab er von sich und ich drehte meinen Kopf soweit nach rechts, sodass ich ihn vom Blickwinkel sehen konnte.

„Ich wünsche mir...", atmete er aus und ich zog die Augenbrauen interessiert zusammen. „Dass... dass du bleibst. Am besten... Für immer..."

Mir kullerte eine Träne der Wange hinunter. Die Trauer überkam mich und füllte mein Herz. Mein Brustkorb fühlte sich schwer. Da ich lag, dachte ich fast, mir würde die Luft zum Atmen fehlen. Die Erinnerung an vorletztes Jahr ließ mich traurig werden, ja. Denn sein Wunsch. Sein Wunsch brannte in meinem Körper. Der Wunsch nach meiner Gesellschaft. Den Wunsch, den er persönlich äußerte. Derselbe Wunsch, der mir stets durch den Kopf ging. Ich brauchte niemanden, wenn ich ihn hatte. Das hatte ich mir gesagt. Doch... Jetzt? Seungmin war nicht mehr da. Ich war... Alleine... Die Erkenntnis traf mich wie ein Schlag ins Gesicht. Als wäre es mir zuvor nicht klar gewesen. Die Wahrheit war einfach... Dass die Wut und die Rache mich blendeten, doch sobald ich hier war, wo ich eigentlich sein wollte... War alles wie verändert. Ich war nicht mehr wütend oder auf Rache aus. Auf einmal... Vermisste ich ihn. Ich vermisste meinen kleinen Bruder. Sobald ich nämlich einen Schritt in die Häftlingsanstalt machte, fühlte es sich kalt an. Fremd. So leer, obwohl es voll hier drinnen war. Er fehlte mir so sehr. Dass ich ihn nie wieder sehen könnte... Brach mir das Herz. Genauso wie es mir damals das Herz brach, dass meine Eltern nicht mehr da waren. Ich war wirklich... Alleine. Sie drei. Sie waren die einzige Familie, die ich besaß. Seungmin war der einzige Bruder, Freund und Mensch überhaupt, der mir zur Seite stand. Der immer da war. Der existierte... Die Tatsache, dass er einfach nur existierte, genügte. Dabei war mir egal, dass ich mein Leben nur für ihn umstrukturierte. Dass ich alles dafür tat, damit es ihm gut ging. Damit er zur Schule konnte. Damit er was zu Essen bekam. Ich hätte mehr getan und war zu mehr bereit, wie auch fähig. Das bewies ich, indem ich hier lag.
Doch, jetzt? Jetzt existierte er nicht mehr. Der Mensch war wie... Nicht mehr da. Niemals da gewesen. Er ist ausgelöscht worden. Als hätte man... Einen Radiergummi verwendet, um das geschriebene, dass von einem Bleistift kam, weg zu radieren. Er war... Weg. Wurde mir genommen und aus meinem Leben gerissen. Ohne ihn oder mich zu fragen. Ohne ihn oder mich zu respektieren. Die Menschen kannten doch sowieso keinen Respekt! Alle wollten, dass Seungmin den Tod fand. Ich hatte viele Hasskommentare im Internet lesen müssen. Wieso schrieb man das? Wieso wollte man ihn tot sehen? Weshalb? Er war doch kein böser Mensch gewesen, oder? Mein Bruder war ein guter Mensch, mit einem guten Herzen. Er hatte nur Fehler begannen, große Fehler, für diese er bereit war gerade zu stehen und für diese er gerade stehen müsste! Aber... Den Tod? Hatte er den Tod verdient? Hatte mein naiver, kleiner Bruder... Den Tod wirklich verdient? Mein sonst unschuldiger Bruder? Wieso waren Menschen immer so radikal gewesen? Wollten Hass mit Hass bekämpfen?
Und wieder überkam mich diese Wut. Die Wut gegenüber Jeongin. Das war nämlich alles seine Schuld. Wäre er nicht gewesen, wäre Seungmin noch am Leben. Wäre er nicht in unser Leben getreten, hätte niemand solche Kommentare im Internet hinterlassen. Ich rieb mir übers Gesicht. Schon klar, dass ich mir selbst widersprach. Ich sprach davon, dass Hass nicht mit Hass bekämpft werden dürfte und trotzdem war ich hier. Dennoch war ich hier. Ich war hier und wollte, dass Jeongin büßte. Ich erkannte die Widersprüchlichkeit und trotzdem... Hatte ich sie nicht abstellen können. Die Ethik, die ich vertrat, diese war nämlich die... Jeongin hatte meinen Bruder getötet. Aber Seungmin hatte keinen getötet, damit die Menschen über ihn reden konnten. Er war... Mittäter... Aber Jeongin war es, der abfeuerte. Ich wusste, dass andere darin keinen Unterschied sahen, aber für mich? Für mich war das ein Unterschied. Für mich war das die gute Ausrede, um meinen Bruder weiterhin schützen zu können. Die Ausrede, die mich an der Theorie festhalten ließ, dass er all das nicht tun wollte. Er wurde überredet. Mitgerissen. Jeongin hatte es selbst zugegeben. Ich führte die Hand an meine Stirn. Wieso hatte ich ihn in unser Haus gelassen? Wieso vertraute ich auf sein Lächeln und auf das, was er sagte? Hätte ich mir nicht denken können, dass er böse war, so wie es jeder andere Mensch war! Wieso vertraute ich immer nur auf das Gute, wenn es das Gute nicht gab? Meine Eltern waren tot! Mein Bruder war tot! Ich hatte keinen Job mehr! Ich wurde ständig abgelehnt! Ich hatte schon immer ein schweres Leben, unter schweren Umständen! Ich saß im Gefängnis, verfluchte Scheiße. Wie konnte ich da denken, dass es überhaupt noch das Gute gab? Ich rieb mir übers Gesicht. Nein... Das Gute gab es nicht. Die Familie Kim wurde damit nicht bereichert, denn... Das war eines der Reichtümer, die die Kims sich nicht leisten konnten. Wir lebten in einer verdammten Welt. In einer Welt voller Unfairness. In einer Welt, in der das Böse und die Ungerechtigkeit siegte. In der Welt, in der nur die gewinnen konnten, die entweder Geld besaßen oder schön aussahen. Und das. Das waren beides Dinge, an die ich niemals festhalten würde. Geld veränderte nämlich die Menschen und schöpfte die widerlichste Art in einem hervor, die tief verankert in jedem schlummerte. Und Schönheit? Schönheit war vergänglich. Genauso wie das Leben...
Für einen Bruchteil der Sekunde ging mir durch den Kopf, ob das Ganze sich hier eigentlich noch lohnte. Ob ich nicht einfach... Aufgeben sollte. Alles hinschmeissen sollte. Es einfach riskieren sollte... Nicht mehr da zu sein. Auch nicht mehr... Zu existieren. Mich einfach selbst auszuradieren...
Sofort schüttelte ich aber den Kopf.
Nein... Denn... Ich war eine Kämpfernatur. Ich hatte schon immer gekämpft, dabei war es egal, wie gering meine Chancen aussahen. Ich tat es dennoch. Nach jedem Mal, bei dem ich gefallen war, war ich wieder aufgestanden. Weil. Ich. Stark. War. So... Wie es mir meine Mutter immer sagte. So... Wie mein Vater immer sagte, dass ich es wert war, egal wie die Welt mich behandeln würde.
Ich atmete tief durch. Deshalb... Kämpfte ich. Deshalb war ich hier...
Ich spürte, wie mich meine Gedanken zerfraßen. Sie wollten mich. Sie wollten über meinen Körper gewinnen. Sie wollten in mein Gehirn eindringen und die Kontrolle übernehmen. Aber... Nein. Nicht heute. Nicht morgen. Niemals. Weil ich noch an ihr hing. An der Hoffnung... An meinem Bruder. An das Versprechen, dass ich ihm gab. Ich schloss die Augen. Und daran... Würde ich mich halten. Ich würde es Jeongin bereuen lassen. Jeder würde es bereuen, der sich mit meiner Familie anlegte. Für immer...

Too much Promises - Stray Kids FF, Hwang HyunjinWo Geschichten leben. Entdecke jetzt