Kapitel 102

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(Bild von Jisoo Chaehyoung)

Freuen wir uns nicht zu früh...

Jisoo Chaehyoung

Ich spürte seinen Herzschlag. Den Herzschlag von Hyunjin, denn mein Kopf war noch immer gegen seine Brust gepresst. Ich hörte, wie es im Sekundentakt schlug. Erst war er unruhig gewesen, bevor es immer ruhiger wurde. Von Minute zu Minute. Genauso wie mein Körper... Meine Atmung regulierte sich. Mein Herzschlag beruhigte sich. Mein Blut pulsierte nicht mehr. Doch mein Blick, dieser galt noch immer ihm. Meinem Vater... Nur, dass meine Augen nicht mehr wütend waren. Mein Gesicht war locker, was bedeutete, ich schenkte ihm keine Emotionen. Wenn ich ehrlich war, wusste ich auch gar nicht, was genau ich fühlte oder dachte. Da war so viel. Ich hatte mich in erster Linie vor mich selbst erschrocken. Vor meiner Tat... Vor meinen Gedanken... Vor meinen Gefühlen ihm gegenüber. Wie konnte ich einfach auf ihn losgehen? Ihn schlagen? Wie konnte ich denken, dass er das verdiente? Dass er sterben sollte... Wieso war ich so... Erdrückt worden von der Wut ihm gegenüber. Solche Züge kannte ich von mir nicht. Weshalb überkam es mich? War ich etwa am Ende? Konnte ich nicht mehr weiter machen? Brauchte ich Distanz? Einen Abstand zu... All dem? Ich presste meine Lippen aufeinander, als ich es bemerkte. Nun fing ich an.... Mich selbst in Frage zu stellen. Das, wegen ihm... Wieso tat ich mir das an und versuchte für mein Verhalten einen Grund zu suchen, wenn dieser mir doch auf der Hand lag! Warum sollte ich versuchen ihn irgendwie zu rechtfertigen? Das ganze... Gut zu reden? Ich meinte damit... Er war mein Vater. Der Vater, der seinen Sohn... Ich schluckte, denn den Gedanken konnte ich nicht ausführen. Der Vater, der keine Grenzen kannte... Wieso sollte ich also welche kennen? Auf ihn loszugehen, das war das Mindeste, dass ich tun konnte und etwas, was ich tun musste, um runterzukommen. Denn jetzt... Jetzt fühlte ich mich besser. Freier. Als lägen die Ketten der Wut nicht mehr um mich. Da ich zusätzlich wusste, dass er in weniger als eine Stunde festgenommen werden würde, weil V und Jennie bereits los waren, schwand die Wut nochmal mehr. Er konnte mir nichts mehr anhaben. Mir nicht. Meiner Mutter nicht. Chan nicht... Denn da saß er nun. Elendig. Darauf wartend, dass die Polizei eintraf... So, wie er es verdiente. Ich spürte, wie sich mein Kopf bewegte, weil sich Hyunjin zu meinem Ohr runterbeugte. Das riss mich für einen Moment aus dem Bann des Hasses, den ich für meinen Vater empfand.

„Gehts wieder?", flüsterte er.

Er war leise gewesen, sodass mein Vater uns nicht hörte. Ich nickte stumm. Seine Hand strich sachte über meinen Rücken, was mir enorm viel Wärme schenkte. Schließlich sprach er erneut zu mir.

„Sicher?"

Wieder nickte ich. Es war alles in Ordnung, denn ich hatte es vorher bereits gefühlt. Ich wusste schon immer, dass der Mann, der vor uns kniete, nie zu den guten Menschen gehörte. Eine Verbindung zwischen mir und meinem Vater fühlte ich hinzukommen nicht wirklich... Ich nannte mich stets selbst das schwarze Schaf der Familie, aber er war es. Er war das schwarze Schaf der Familie und nur er. Dies ließ sich nicht ändern, das realisierte ich nun. Er war ein böser Mensch, weil böse Menschen existierten. Das war ein Fakt. Aus diesem Grunde... Fand ich mich damit ab. Mit ihm. Weil ich musste. Genauso... Wie ich mich damals mit Felix' Tod abfand... Wie ich mich damit abfand, dass Chan festgenommen wurde... So fand ich mich auch mit ihm ab. Mit dem Mann, der sich mein Vater nannte. Der Mann, der Übel in meine Familie brachte, seit ich denken konnte. Ich glaubte, dass ich mich schneller mit ihm anfinden konnte, weil er dafür bezahlen würde... Ja... Ja, mir ging es dadurch besser. Ich atmete aus, als ich den Kopf von Hyunjin's Brust nahm, um dann zu ihm aufzusehen. Sein Blick hatte mich direkt empfangen. Seine dunkelbraunen, warmen Augen, die besorgt um mich schienen. Ich nickte vorsichtig, weil er schlussendlich die Bestätigung von mir wollte, dass es mir gut ging und... Mir ging es gut. Sobald mein Vater bald weg war... Hyunjin bei mir blieb... Ging's mir gut. Aber der Optimismus, der mich aus irgendeinem Grund übernahm, den legte ich ganz schnell wieder ab, als es geschah... Es war nur ein Augenblick. Nur... Eine Sekunde... Eine einzige Sekunde war es, in der ich ihn aus den Augen ließ. In der ich nicht zu meinem Vater sah, sondern zu Hyunjin. Das sah der auf dem Boden sitzende wohl als Chance, denn... Da war er bereits aufgesprungen. Mein Vater... Er stand schon auf den Beinen und war  im nächsten Moment losgelaufen. So schnell hatte ich das gar nicht realisieren können, da stieß sich Hyunjin schon von mir, als er plötzlich auch loslief. Für eine Weile blieb ich stehen. Wie ein Eisbrocken... Blinzelnd stand mir der Mund offen, bis bei mir ankam, was da eben passierte. Mein Vater... Lief weg. Er lief vor uns weg. Vor der Polizei. Vor seiner Strafe... Und Hyunjin? Hyunjin lief ihm hinterher! Das war schließlich der Moment. Der, der mich auch dazu brachte loszulaufen. Ich wusste in welche Richtung sie liefen und war keine Minute später hinterher gelaufen. Schließlich fingen die Alarmglocken in meinem Kopf zu läuten. Die Sirenen. Sie gingen los und sie waren verdammt laut, sodass meine Gedanken von ihnen dominiert wurden. Mein Vater wollte abhauen! Er wollte hier weg! Er wollte die Flucht ergreifen! Dabei durfte er das nicht! Er musste ins Gefängnis! Er musste bestraft werden, so, wie er uns bestrafte! Wie er meinen Bruder bestrafte! Wenn er weglief und sich versteckte, würde das nicht passieren! Er würde nie bestraft werden! Oder der Prozess würde sich verzögern und ich könnte nicht mehr schlafen! Nicht mehr warten! Nicht mehr leben! Deshalb lief ich, als hinge die Entscheidung über mein Tod davon ab. Ich war das erste Mal dankbar dafür, dass ich regelmäßig joggen war, denn... Nun war es zu spüren. Es wurde mir endlich gezeigt, weshalb es gut sein konnte. Meine Kondition war nämlich hervorragend und ich war schnell genug. So schnell, dass ich Hyunjin sehen konnte. Vor ihm meinen Vater... Sie liefen aus dem Wald hinaus. Ich natürlich auch. Ich durfte niemals verpassen, was da vor sich ging. Ich dürfte ihn nicht verpassen. Meinen Vater... Er durfte uns nicht entfliehen. Bitte... Er durfte nicht. Ich wusste zwar nicht, was ich tun sollte, würde ich ihn erreichen... Aber ich fühlte mich so besser. Als hätte ich dann mehr Kontrolle über ihn und die Situation...
Aus dem Wald gelaufen, waren wir auf der Hauptstraße angelangt, die zu meinem Haus runter führte. Mein Vater lief noch immer, wobei Hyunjin ihm dicht auf den Fersen war. Ich hing hinterher, war aber in ihrer Nähe. Mein Herz pulsierte schon wieder, wie es das noch nie tat. Meine Atmung ging schnell und der Schweiß bildete sich auf meiner Stirn. Ich konnte gar nicht beschreiben, wie es sich für mich anfühlte meinem eigenen Vater hinterher zu jagen. Es war ein intensives und lang anhaltendes Gefühl. Eines, dass anstrengend war und sich anfühlte wie die Ewigkeit. Es war einfach nur schrecklich... Man konnte beinahe von einer Erleichterung sprechen, als ich sah, wie Hyunjin es schaffte meinen Vater von hinten zu packen. Es war wie eine Erlösung... Er konnte meinen Vater von hinten fassen, bevor beide stolperten und zu Boden fielen. Abrupt hielt ich an, nur um zu verstehen, dass wir uns in der Straße befanden, wo das Haus meiner Familie stand. Ich keuchte. Meine Lungen kratzten und schmerzten mir fürchterlich. Mein Gehirn arbeitete nicht mehr. Es konnte durch den Fluchtversuch meines Vaters nicht mehr laufen, nein. Ich konnte nur noch zusehen, was geschah. Wie beide fielen. Nun lagen sie da, zumindest für einen Bruchteil der Sekunde. Daraufhin griffen sie sich an den Kragen und wälzten sich. Meine Augen weiteten sich, während ich weiterhin bloß zusah. Nicht wissend, was ich am besten hätte tun können. In meinem Körper machte sich ein unangenehmes Gefühl breit. Dieser verging auch nicht, als Hyunjin sich auf meinen Vater setzte.

Too much Promises - Stray Kids FF, Hwang HyunjinWo Geschichten leben. Entdecke jetzt