Kapitel 203

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Aber naja, ich meinte ja auch, dass alles besser werden muss, sobald Leo aufwacht. Heute darf ich sie wieder mit nach Hause nehmen, aber ehrlich gesagt freue ich mich da noch nicht ganz so sehr drauf, wie ich vermutlich sollte. Die letzten zwei Wochen waren einfach nur anstrengend. Über die Fortschritte, die Leo macht, erfahre ich wenn überhaupt durch meine Schwester und wenn sie mir das erzählt muss ich immer ordentlich Schmerz runterschlucken. Den Schmerz, den meine Frau mir bereitet, indem sie nicht mit mir redet. Als sie plötzlich vor meinen Augen aufgestanden ist, um an den Pullover weiter oben im Schrank zu kommen, und ich mich gefreut habe, hat sie ausschließlich mit den Schultern gezuckt... Aua! Ich liebe sie, aber merkt sie nicht, wie sehr es mich zerfrisst? Lässt es sie so kalt? Kilian ist noch im Kindergarten, auch wenn er weiß, dass Mama heute nach Hause kommt und das aufregend ist, soll er in diesem Rhythmus bleiben. Gerade passiert so viel, viel zu viel für ein Kind, da braucht er einfach einen halbwegs konstanten Tagesablauf. Also hab ich ihn auch heute morgens in den Kindergarten gebracht, dann bin ich wieder nach Hause und hab noch ein kleines bisschen was erledigt. Bevor ich dann jetzt los bin, war ich nur nochmal schnell duschen und hab mich frisch rasiert. Aufgeregt bin ich auf jeden Fall! Meine Hände sind kalt und feucht, während ich die Tür zu Leos Zimmer öffne. Oder ehemaligem Zimmer? Fast ehemaligem Zimmer. Ab heute ist sie wieder zuhause. Vier Jahre hab ich davon geträumt, mit ihr zusammen aus diesem Zimmer zu gehen und jetzt... ist sie nicht hier? Was zur Hölle? Wo ist meine Frau? Ihre Sachen sind noch da und es war ja auch abgesprochen, dass ich sie abhole...

Als ich das Zimmer dann wieder verlasse, höre ich ihr Lachen. Etwas, was ich eine halbe Ewigkeit nicht gehört habe. Ich sehe also in diese Richtung und natürlich hängt dieses Lachen mit einem anderen Mann zusammen. Als sie aufblickt, lächelt sie mich leicht an, ihr Lachen ist gedämpfter.
„Ich sehe, du bist jetzt in guten Händen. Ich werd' mich dann mal los machen und wir sehen uns übermorgen pünktlich zur Physio unten, ja?"
„Hab verstanden, bis dann."
Grinsend beschleunigt er seine Schritte und geht somit an mir vorbei, während Leo noch ein wenig Abstand zu mir hat.
„Nach Hause?" frage ich, als sie dann mit den Krücken vor mir steht.
Sanft lächelnd nickt sie und humpelt dann an mir vorbei in ihr Zimmer.
„Ich muss nur noch den Rest meiner Sachen einpacken. Ist nicht viel."
„Soll ich schon was runter ins Auto bringen oder soll ich warten?"
„Es ist ja allgemein nicht viel, ich packe das nur noch schnell ein und dann können wir los."
„Okay" murmle ich und setze mich aufs Bett.
Ich sehe mich also noch ein letztes Mal in diesem Zimmer um. Vier Jahre lang bin ich hier ein und aus gegangen. Hab Leo besucht, um mit ihr zu reden. Ich hab zwar immer eher gegen eine Wand gesprochen, aber wirklich anders war's auch nicht, als sie dann wach war. Hier hat Kili sein erstes Wort gesagt. Hier hat er seine Mutter kennengelernt. Hier hab ich so viel empfunden. Jetzt geht der Traum, den ich vier Jahre lang hatte, in Erfüllung.
„Wincent, kannst du mir doch mal helfen?"
Kurz etwas überfordert blicke ich zu Leo rüber und stehe dann auf, um ihr den Kram aus der Hand zu nehmen und in ihre Tasche zu packen. Als ich wieder aufblicke, steht Leo immer noch da und hat sich an ihre Krücken gekrallt. Sie zittert leicht.
„Leo, setz dich doch einfach mal kurz, wenn du kaputt bist."
„Passt schon, ich will hier raus."
„Du kommst hier ja auch heute noch raus, aber nicht, wenn du auf dem Weg nach draußen nen Schwächeanfall kriegst. Hinsetzen."
Wir liefern uns noch kurz einen Anstarrwettbewerb, dann setzt sie sich auf den Stuhl. Ich schließe derweil ihre Tasche und werfe sie mir einfach über die Schulter.
„Kilian ist noch im Kindergarten, Shay holt ihn ab und bringt ihn gegen vier nach Hause. Sind also noch ein paar Stunden..."
... die wir zu zweit außerhalb des Krankenhauses verbringen werden. Eigentlich doch mal eine total normale Situation für uns als Ehepaar... aber ich weiß nichtmal, ob man uns aktuell als richtiges Ehepaar bezeichnen kann. Wir sind verheiratet, aber die Situation zwischen uns ist einfach angespannt. Ich will, dass es so wird wie früher, dass wir wieder so miteinander umgehen, als würden da nicht diese vier Jahre zwischen uns stehen.

Alles was uns reichtWo Geschichten leben. Entdecke jetzt