Kapitel 209

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Sicht Wincent
Beim Essein sitzen wir uns wie immer gegenüber und wie immer schweigen wir. Nur geht das dieses Mal glaub eher von mir aus. Keine Ahnung, was auf einmal los ist, aber ich kann langsam nicht mehr. Diesen Vollidiot vorhin so nah bei Leo zu sehen hat auch nicht wirklich geholfen. Warum lässt sie ihn so nah an sich heran und meine Nähe erträgt sie nicht? Toll, grandios! Wenn sie sich nicht mehr auf mich einlassen kann, soll sie es einfach sagen! Je früher ich anfangen kann zu trauern, desto eher bekomme ich vielleicht endlich mal mein altes Ich zurück. Das gerade ist einfach nur pure Folter und ich hab die Schnauze gestrichen voll! Als wir aufgegessen haben, räumen wir ab. Aber als ich mich gerade ins Bad verziehen will, um zu duschen, greift Leo nach meiner Hand.
„Warte."
Ich sehe sie an, sie mich aber nicht.
„Ich habe lange gewartet" murmle ich, dann sieht sie auch hoch zu mir „Ich habe auf dich gewartet und gerade denke ich, dass endlich wieder alles gut wird, dass alles endlich so werden kann, wie wir es uns damals vorgestellt haben... zumindest in Ansätzen... da erträgst du meine Nähe nicht. Weißt du, wie sehr du mich damit verletzt hast? Wie kommt es, dass du seine Nähe so sehr genießt und meine nicht erträgst? Wie kommt es, dass du nicht merkst, wie weh du mir tust? Wie kommt es, dass du es schaffst, dass ich mich schlecht fühle deswegen. Ich! Ich würde alles für dich tun und du tust mir eiskalt weh! Wenn du nicht mehr mit mir zusammen sein willst, sag es! Sag es, aber quäle mich nicht tagtäglich mit der Hoffnung, dich zurückzubekommen!"
„Du verstehst das nicht" seufzt sie.
„Doch! Schon klar, dass das für dich schwer ist! Das verstehe ich! Aber du verstehst nicht, wie schwer die letzten Jahre für mich waren."
„Du glaubst echt, dass ich das nicht verstehe?"
„Du warst ja nicht da!"
„Ich war vielleicht nicht da, aber ich bin jetzt da! Glaubst du ernsthaft, dass ich noch kein einziges Mal auf Instagram war? Dass ich mir dein Album nicht angehört habe? Du tust so, als wären die letzten Jahre nie geschehen, als könnten wir exakt dort weitermachen, wo wir aufgehört haben. Aber das können wir nicht!"
„Du hast meine Songs gehört?"
„Natürlich!"
Jetzt stehe ich hier und sehe meine Frau an, die auch mich anstarrt. Beide atmen wir schwer, meine Hände sind noch immer zu Fäusten geballt, Leo krallt sich an ihren Krücken fest.
„Trotzdem flüchtest du in die Arme eines anderen Mannes?"
„Wie bitte?!"
„Seine Nähe genießt du, seine Nähe tut dir anscheinend richtig gut... Meine Nähe erträgst du nicht."
„Wenigstens behandelt er mich nicht, als würde ich zerbrechen wenn mal nur im falschen Ton mit mir spricht! Ich habe es so satt!"
„Was genau hast du satt?"
Sie will gerade zu einer Antwort ansetzen, da klingelt es an der Tür.
„Mein Papa mit Kilian" murmelt sie also nur und lässt mich stehen, um zur Tür zu gehen.
Ich atme nochmal kurz durch, bevor ich ihr folge und wenig später hab ich meinen Sohn auf dem Arm. Ich schlage kurz bei Frank ein und hab mal wieder, genau wie Leo auch, mein geradezu makelloses Lächeln aufgesetzt, bei dem niemand erahnen könnte, bei welcher Art Konversation wir eben unterbrochen wurden.
Ehrlich gesagt kann ich unseren Standpunkt jetzt noch weniger einordnen als vorher. Hab ich sie mit meinem Verhalten wirklich so weggestoßen wie sie mich? Wir haben beide an dieser Situation in der wir hier stecken Schuld. Die Frage ist nur, ob wir es beide wieder hinkriegen wollen und ob wir beide dafür an einem Strang ziehen können. Ich kann das bei ihr gerade überhaupt nicht einschätzen und wenn ich ehrlich bin, bei mir auch nicht... Hab ich noch genug Kraft dafür?

„Ich hab dich vermisst, Papa" murmelt mein Sohn gegen meinen Hals.
Ich schließe meine Augen, während er seine Arme um meinen Hals geschlungen hat. Man hab ich das vermisst!
„Ich muss auch schon wieder los, wir sehen uns bald" lächelt mein Schwiegervater und im Augenwinkel sehe ich, wie er und Leo sich kurz umarmen, dann verschwindet er.
„Und du musst langsam mal ins Bett, oder?"
„Nein, ich will noch nicht! Ich hab dich so vermisst!"
„Ich dich ja auch mein Großer..."
Aber ich hab eigentlich noch ziemlich viel mit deiner Mama zu bereden.
„Bitte Papa!"
Ich werfe einen kurzen Blick zu Leo, welche gerade dabei ist, zum Sofa zu gehen.

Alles was uns reichtWo Geschichten leben. Entdecke jetzt