¤Meister Yue¤

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Ich atmete tief durch und musste mich von  diesem Flug erst mal erholen. Das war definitiv das Abgefahrenste, was ich jemals getan hatte! Das war einfach unglaublich! Dieser Flug, der Wind, dieser traumhafte Ausblick... Verträumt lag ich da, bedeckt vom Fallschirm, das Gesicht im Schnee vergraben, und spürte die erfrischende Kälte auf meiner Haut. ,,Alles in Ordnung?", hörte ich meinen Chef rufen, der gerade auf mich zustapfte. ,,Ja,"wisperte ich und kroch unterm Fallschirm hervor. ,,Wie geht es meiner Tasche?", meinte ich ironisch und ging auf ihn zu. ,,Ganz gut. Danke der Nachfrage,"sagte er und zwinkerte mir zu. Anscheinend hatte er die Ironie verstanden. ,,Was wird aus den Fallschirmen?", fragte ich , während ich mir die Landschaft anschaute. ,,Meine Leute holen die später ab. Komm lass uns gehen...,"sagte er und musste niesen. ,,Gesundheit", murmelte ich und grinste ihn an. ,,Na los," murrte er , während er sich die Nase putzte, und gab mir meine Tasche.

Verlegen schaute ich nach, ob alles den Flug heil überstanden hatte, und folgte ihm hangabwärts. Wir mussten aufpassen, dass wir nicht abrutschten. Der Hang war so steil, dass man auf dem vereisten Schnee kaum Halt fand, sodass wir uns ganz vorsichtig vortasteten. Doch schon nach wenigen Schritten rutschte er auf einmal aus und fiel nach vorne. Erschrocken blieb ich wie angewurzelt  stehen und wartete, bis er wieder Halt gefunden hatte. ,,Ist alles in Ordnung? ," rief ich ihm hinterher und beeilte mich, ihn einzuholen. Langsam erhob er sich aus dem Schnee und brachte nur noch ein Schnauben von sich. ,,Warten Sie, ich komme!" Anstatt mich mühselig durch den Schnee zu kämpfen, ließ ich mich auch fallen und rutschte den Hang hinunter. Knapp vor seinen Füßen kam ich zum Stehen und schaute ihn aufmunternd an. ,,Ja... Es ist alles in Ordnung... Da vorne ist es,"wisperte er und zeigte auf eine Gletscherspalte. ,,Gutes Versteck," erwiderte ich und folgte ihm den Berg hinab.

Behutsam kletterten wir in die Gletscherspalte und seilten uns ab. Die Wände waren sehr rutschig, aber dennoch schafften wir es, uns festzuhalten. Wir kletterten immer tiefer hinein, bis wir auf einen alten Stollen stießen, und gingen hinein. Die Decke war sehr niedrig, sodass  wir nur gebückt vorankamen. Als es schließlich immer dunkler wurde, holte er eine Taschenlampe aus seiner Jacke und beleuchtete den Weg.
Nach einiger Zeit blieb er stehen. Hier ging es nicht mehr weiter. Er hatte mich in eine Sackgasse geführt... oder doch nicht?
Sorgfältig tastete er die Wand ab und fühlte einen Knopf. Als er ihn betätigte, erschien an der Seite ein kleines Tastenfeld mit einem Fingerabdruckscanner. Zunächst gab er unzählige Codes ein, bis er den Scanner aktivieren konnte, und legte seinen Daumen auf die Schaltfläche.

Die Wand schob sich beiseite und offenbarte uns einen schmalen Gang . Die Wände und der Boden waren grau, wie in der Zentrale der GOS. Wir gingen schnell hindurch, bevor sich die Geheimtür wieder schloss, und folgten diesem Gang bis zu seinem Ende. Er führte uns immer tiefer in den Berg hinein. Nach mehreren Abzweigungen erreichten wir eine Tür, die zu einem großen Saal führte. Nur eine Lampe erleuchtete die Mitte des Saals, in der sich ein Boxring befand. ,,Hallo?", rief ich und schaute mich um. ,,Meister Yue? Seid Ihr da?", fragte mein Chef und trat in den Ring. Auf einmal ging die Lampe aus. Alles war jetzt dunkel.  Wir sahen die Hand vor Augen nicht und tasteten uns behutsam vor. Mir war klar, dass ich bei jedem Schritt hinfallen oder über etwas stolpern könnte, und versuchte mich zu konzentrieren. Reglos stand ich da und  verließ mich auf mein Gehör. Während mein Boss sich durch sein lautstarkes Gepolter verriet, blieb ich lieber still und ging zur Wand. Behutsam tastete ich sie ab, bis ich einen Schalter fühlte, und machte das Licht wieder an. ,,Bravo,"hallte es hinter mir. Erschrocken drehte ich mich um. Eine Frau stand ungefähr zwei Meter von mir entfernt und klatschte in die Hände. Ich schätzte sie um die Mitte 50, vielkeicht auch etwas älter, weil mein Chef ja schon um die 30 war... An ihrem Leib trug sie ein graues Cheongsam, ein traditionelles chinesisches Kleid, das ihr ausgezeichnet stand.
,,Yue," begrüßte er  seine alte Meisterin und ging auf sie zu. ,,Wie ich sehe, hast du dein drittes Auge verloren, Wayne", äußerte sie sich weise und gab ihm zur Begrüßung eine Umarmung. ,Wayne?',schallte es durch meinen Kopf und ich wunderte much, dass ich noch nie zuvor von seinem Vornamen gehört hatte.
Beschämt lief Mr. Simons rot an und schaute zu Boden: ,,Ach weißt du... bei so vielen Verbrechen, die ich täglich aufklären muss, verlernt man das." - ,,Sie hingegen, hat bewiesen, dass sie ein drittes Auge besitzt. Komm mal her,"meinte sie und betrachtete mich genauer. ,,Du bringst mir eine neue Schülerin?", fragte sie ihn lässig und reichte mir die Hand. ,,Ja. Du bist die Einzige, die ihr in der Sache helfen kann. Sie braucht eine spezielle Ausbildung, um die Mission zu beenden. Du hast von Michael Hanson gehört?", erwiderte er und holte eine Akte aus seiner Jackentasche.  Erstaunlich was er da alles drin hatte ;)
Sie nickte: ,,In der Tat".
,,Hier steht alles drin, was du wissen musst,"meinte er und reichte ihr die Akte. ,,Gut. Aber zuerst zeige ich euch alles. Es hat sich einiges geändert, seit du hier warst," raunte sie zu ,Wayne' und ging voran. Ich folgte ihnen einfach und schaute mir alles an. Diese Trainingshalle war gigantisch. Hier konnten bestimmt hundert Schüler gleichzeitig trainieren. Der ganze Boden war mit Judomatten ausgelegt worden und an den Wänden standen große Vitrinen, in denen Waffen gelagert und durch dickes Panzerglas geschützt wurden. Vom Stil her sah der Bereich dem geheimen Keller meiner Eltern sehr ähnlich,  nur viel größer.
Ich bestaunte beim Betrachten vor allem die verschiedensten Waffen. Manche kannte ich noch gar nicht, andere hatten etwas Science-Fiction-Mäßiges an sich, sodass man sich wie in einem Raumschiff fühlte... ,,Kommst du Sarah?", meinte Mr. Simons und drehte sich zu mir um. ,, Ja...",wisperte ich und trottete hinter ihnen her. 

Als nächstes zeigte sie uns den Speisesaal. Er ähnelte ein bisschen den Cafeterien in Gefängnissen, in denen man an lange Tafeltischen saß  und sich gegenseitig anstarrte. Bevor wir noch länger verweilten,  führte sie uns weiter in ihr Büro. Mit einer Geste wies sie uns,  auf den Stühlen Platz zu nehmen und verschwand einen Moment  in einem Nebenzimmer,aus dem sie zwei Gläser holte. Während sie uns Wasser einschenkte und uns die Gläser reichte, meinte sie: ,,So, dann will ich mir mal die Akte durchlesen,"nahm die Akte  und überflog die Seiten.
Einige Minuten später sprang Mr. Simons plötzlich auf und deutete mit seinem Handy hektisch auf seine Armbanduhr. ,,Verzeiht. Ich muss los. Ein Notfall in der Zentrale. Ohne mich läuft alles drunter und drüber. Ich rufe bald wieder an," seufzte er und verließ eilig das Büro. ,,Nun denn...,"raunte sie und vertiefte sich nach einem verabschiedenden Schmunzeln wieder in der Akte.

Nach einer Weile erwähnte sie: ,,Du hast ja heftige Befunde", und schaute zu mir auf. ,,Du brauchst deine Wunden nicht unter einer Kapuze verstecken," erwiderte sie und beugte sich über den Schreibtisch. Sanft fasste sie den Saum meiner Kapuze und zog sie mir vom Kopf. Ich wagte mich gar nicht, sie anzuschauen, ihre Blicke des Mitleids zu sehen, und hielt meine Augen geschlossen. ,,Hee... Du brauchst keine Angst zu haben.  Ich will dir nur helfen...," versuchte sie mich zu trösten und strich sanft über meinen Arm. ,,Ich habe keine Angst. Ich ertrage nur die Blicke des Mitleids nicht," raunte ich mit ernster Stimme und schaute sie kühl an. Irgendwie reagierte sie ganz anders, wirkte gar nicht gerührt von dem was sie sah... Anscheinend war sie ein Mensch, der seine Gefühle kaum zeigte... ,,Wenn Sie mir wirklich helfen wollen, dann suchen Sie mir ein Krankenhaus, das meine Narben operieren kann," zischte ich und zog meine Jacke aus. Als sie meine Arme sah, zuckte sie zusammen, fasste sich aber schnell wieder und blockte sofort ab:,,Ich denke, das wird nicht nötig sein... Wenn du lernst, mit den Narben zu leben und mit dem Medaillon umzugehen, werden sie mit der Zeit von alleine schwinden..."
- ,,Wenn Sie meinen," raunte ich und betrachtete einen Moment lang die Schriftzeichen auf ihrem Cheongsam, während ich einen Schluck Wasser trank.
Sie standen für das Glück und den Mut, den ein Jeder in seinem Herzen trug....
- ,,Sie wissen um das Medaillon Bescheid?,"fragte ich und setzte unsere Unterhaltung fort.
,,In der Tat. Dein Vater hat  mir eine Hälfte persönlich gezeigt."
- ,,Mein Vater?"
- ,,Ja... Ich habe ihn einst  ausgebildet...,"meinte sie und wies hinter sich auf ein Bild an der Wand, das meinen Vater und sie lachend zeigte.
Er trug dort einen Judoanzug und hielt eine Auszeichnung in der Hand.
,,An dem Tag hat er seine Gürtelprüfung gemacht, war ein schlauer Bursche..."
Schmunzelnd sah ich es an und bemerkte, wie mir fast eine Träne runterkullerte.
Bevor es ihr zu ausschweifend wurde, stand sie auf wies zur Tür:
,,Nun denn... Du bist bestimmt müde von der langen Reise. Ich bring dich auf dein Zimmer. Gegen sieben Uhr gibt's Abendessen, "meinte sie und ging voran. Dankend nickte ich nur und folgte ihr durch die unzähligen Gänge. Irgendwie war es merkwürdig... Ich sah außer uns keine anderen Menschen. Wo waren die anderen Schüler? Alles war so ruhig, nur unsere Schritte hallten auf dem stählernen Boden. Nach mehreren Abzweigungen blieb sie abrupt stehen und öffnete eine Tür. ,,Hier ist es. Mach es dir bequem. Wenn du was brauchst, drücke den roten Knopf an der Tür,"meinte sie und ließ mich allein. Nachdenklich schaute ich ihr noch nach, dann ging ich ins Zimmer.

Burning Scar - Von Flammen umzingeltWo Geschichten leben. Entdecke jetzt