Kapitel 92 - Ängste

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Die letzte Nacht, vor dem Tag der Mission, bricht an. Ich wache mitten in der Dunkelheit auf. Alle schlafen. Meine Kehle ist trocken. Ich bin durstig. Müde schleife ich mich aus dem Bett, schlendere barfuss und schlaftrunken über den Flur des zweiten Stocks und über die Treppe in den ersten Stock. Dort gibt es ein kleines Bad. Ich nehme mir einen Becher, befülle ihn und lösche meinen Durst.

Ich verlasse das Bad und bleibe im Flur stehen. Es ist so still, doch ein einzelnes Geräusch erregt meine Aufmerksamkeit. Ein leises Wimmern ist zu hören. Ich kriege eine Art Flashback und die ganze Situation erinnert mich an den ersten Traum, den ich mit Draco hatte. Das erste Zusammentreffen mit Nagini in der Malfoy Manor. Der erste Traum, indem ich vom Ausmass seines Leides erfuhr.

Unsicher beuge ich mich vor und schaue über mein Nachthemd und dann auf meine nackten Füsse hinunter. Ich versuche einzuschätzen, ob das die Realität oder einer meiner Traumwandler-Erlebnisse ist. Es ist nicht eindeutig. Das leise Wimmern lässt mich erneut aufhorchen.

„Es spielt keine Rolle, wo ich bin. Unsere Realität fühlt sich auch nur wie ein weiterer Traum an." Flüstere ich mir leise im Selbstgespräch zu, während ich vorsichtig einen Schritt vor den anderen mache und dem Ursprung des Geräusches folge.

Ich nähere mich der Tür, die zur Abstellkammer führt, in die mich Draco kürzlich geschleift hatte. Langsam drücke ich die Klinke runter und schiebe die Tür auf. Es riecht nach antiken, verstaubten Möbeln und Leder. Jetzt kann ich ihn auch atmen hören. Meine Augen haben sich an die Dunkelheit gewöhnt und ich erkenne die Umrisse seines Gesichts auf dem Sofa, auf dem wir noch vor ein paar Tagen sassen und uns küssten.

Er hat seine Bettdecke und das Kissen hierhergebracht. Nachdem er gehört hatte, wie wir über ihn redeten, muss er offenbar das Zimmer gewechselt haben. Verübeln kann ich ihm das nicht. Für ihn wirkte es, als ob wir über ihn lästern aber in Wahrheit machen wir uns Sorgen.

Draco wälzt sich und bewegt seinen Kopf rastlos umher. Ich knie mich vor ihn an das Sofa und streiche ihm ein paar verschwitzte Fransen aus dem Gesicht. Laut Ron's Aussage geht das mit den Albträumen jetzt schon seit einigen Tagen so. Eine plötzliche Traurigkeit erschüttert mich. Womit hat er das verdient...? Wie viel kann und muss ein Mensch erst ertragen, bis er daran zerbricht?

Die Traurigkeit wandelt sich in Verzweiflung und schliesslich in Wut. Ich steige trotzig auf das Sofa und lege mich neben ihn. Mein Kopf verweilt auf seiner Brust und meine Arme schmiegen sich um seinen Bauch. „Ich bin da... du bist nicht alleine... ich bin da..." Wiederhole ich flüsternd und inständig die Worte. Ich spüre, wie sein Brustkorb sich anhebt und wie er nach Luft schnappt. Seine Hände ertasten meinen Rücken. Er ist erwacht. Ich hebe meinen Kopf an und schaue direkt in sein blasses Gesicht und die geröteten Augen. „Was machst du hier? Geh zurück in dein Zimmer." Gibt er mir kraftlos die Anweisung. Ich schüttle den Kopf und widersetze mich. Ich bin selber den Tränen nahe.

Er dreht seinen Kopf zur Seite und starrt ins Leere. „Sieh mich nicht so an. Das ist nicht zum Aushalten..." Wirft er mir in leisem, verletztem Ton vor. Egal was ich jetzt sage, es hätte keinerlei Wirkung. Ich stütze meine Arme links und rechts neben ihm ab und beuge mich über ihn. Mein langes Haar fällt mir über die Schulter und kitzelt seine Brust. Ich nähere mich seinem Gesicht und setze einen langen, hingebungsvollen Kuss auf seine Wange.

Sogleich dreht er sein Gesicht zurück zu mir. Seine grossen, strahlendhellen Augen schaffen es durch meine hindurch zu blicken und meine Seele zu berühren. Einzelne Tränen laufen ihm auf den Seiten runter, doch er wendet den Blick nicht von mir ab.

„Möchtest du vielleicht reden?" Frage ich mit zitternder Stimme. Er nickt und gibt mir ein von Trauer verzehrtes Lächeln. Er schlingt seine Arme um mich und ich sinke auf ihn herab. Ich werde gegen seine warme Brust gedrückt. Meine angespannten Glieder lassen los. Er zieht die Decke über uns. Keiner von uns sagt etwas. Mein Herz hämmert in meiner Brust und seines pocht und schlägt von der Gegenseite auf meinen Körper ein. Es fühlt sich an, als würden unsere Herzen zusammen ausbrechen wollen.

𝔻𝕒𝕣𝕜 𝕄𝕒𝕘𝕚𝕔Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt