Teil 77

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Rosa

Verdammt. So eine Gruppensitzung ist echt heftig. Ich muss sagen, im Gegensatz zu den anderen Frauen war meine kurze Zeit in Hugo's Gewalt das reinste Kinderspiel. Von häuslicher Gewalt, über Gruppenvergewaltigung und Zwangsprostitution ist alles dabei. Bei den Erzählungen ist mir richtig übel geworden. Ich wollte daher überhaupt nichts von mir erzählen. Jedoch hat es Franci wieder geschafft, etwas aus mir heraus zu kitzeln. Zum ersten Mal habe ich über die Geschehnisse in Mexiko gesprochen. Selbst Franci habe ich noch nicht so viel erzählt gehabt. Auch wenn er sich wahrscheinlich durch meine Verletzungen einiges zusammenreimen konnte, wirkte er jedoch ziemlich betroffen. Aber auch die Mädels haben mitfühlende und sogar aufmunternde Worte. Ich muss gestehen, nach der Sitzung bin ich erschöpft aber fühle mich um einiges leichter.

Den Nachmittag verbringe ich auf meinem Zimmer. Die Mädels haben zwar gefragt, ob ich mit ihnen einen Film schauen will, aber ich brauche noch etwas Ruhe. Zum Abendessen versammeln wir uns jedoch in der Küche und kochen zusammen. Sie sind ein eingespieltes Team und jeder hat seine Aufgabe. Während ich das Gemüse schneide, erzähle ich von dem Essen meiner Oma. Ich muss ihnen versprechen, bald ein paar mexikanische Spezialitäten zu kochen. Auch das Essen in großer Runde ist nett. Eine Regel lautet, dass während der Essenszeiten nur positive Themen besprochen werden. Daher ist die Stimmung wirklich ausgelassen. Jedoch hat mich der Tag echt geschafft.

Zurück in meinem Zimmer sehe ich auf meinem Handy eine Nachricht von Claire. Sie erkundigt sich ob alles okay ist und wie die Mitbewohnerinnen sind. Doch ich habe keine Kraft zu antworten. Außerdem zieht es mich gerade dermaßen runter, dass Mario sich nicht gemeldet hat. Nicht mal auf meinen Abschiedsbrief.

Die nächsten Tage laufen immer gleich ab. Franci sagt, dass ein geregelter Tagesablauf wichtig ist. Mich nervt es etwas, aber solange ich meine Auszeiten habe, ist es okay. Jeden Abend erhalte ich eine Nachricht von Claire. Sie fragt ständig, ob wir uns auf einen Kaffee treffen. Unschlüssig, wie das hier mit Ausgang ist, spreche ich Franci drauf an. "Ihr seid hier nicht eingesperrt. Natürlich dürft ich raus. Es liegt eher daran, ob du dich bereit dazu fühlst." Erklärt er mir. "Ok. Ich überlege es mir."

Es vergehen noch ein paar weitere Tage, bis ich schließlich einem Treffen zustimme. Mit einem mulmigen Gefühl sitze ich in dem Café und warte auf Claire. Wird Mario sie fahren? Wird er Hallo sagen oder im Auto warten? Bringt sie Riccardo mit? Da ich etwas zu früh bin, dauert es eine gefühlte Ewigkeit bis sie kommt.

Als sich die Tür öffnet und ich Claire erblicke, flattert mein Herz in der Hoffnung, dass Mario dabei ist. Aber es ist Mick der ihr folgt. Ich versuche mir meine Enttäuschung nicht anmerken zu lassen. Mick begrüßt mich freundlich, setzt sich dann aber etwas weiter weg an einen Tisch.

Claire kommt stürmisch auf mich zu gelaufen und umarmt mich herzlich. "Ich freu mich so, dass es endlich geklappt hat." Plappert sie aufgeregt drauf los. Zunächst bin ich ziemlich zurückhaltend und eingeschüchtert. Ich hätte gedacht, sie ist mir vielleicht böse, weil ich gegangen bin. Aber meine Angst ist unbegründet. Wir quatschen und lachen. Es tut richtig gut und ich ärgere mich, nicht schon eher einem Treffen zugestimmt zu haben. Doch mir fällt auf, dass sie das Thema Riccardo und auch Mario meidet. Daher mache ich einen mutigen ersten Schritt. "Wie geht's denn dem kleinen Hosenscheißer?" Frage ich daher betont lässig. Claire schaut mich erstaunt an. "Richtig gut. Er wächst und wächst." Erklärt sie ziemlich verhalten. Sie will mich sicherlich damit nicht überfahren. "Hast du Fotos?" Frage ich sie daher. Jetzt ist der Knoten geplatzt. Sie zückt ihr Handy und zeigt mir ein Foto nach dem anderen. Wie der Kleine schläft, beim Baden, beim Wickeln, im Kinderwagen, mit seinem Daddy.... Und mit Mario. Fuck. Mein Herz bleibt einen Augenblick stehen. Claire merkt meine Reaktion und will direkt zum nächsten Bild. Jetzt oder nie Rosa. "Wie geht es Mario?" Erkundige ich mich mit zitternder Stimme. Claire pustet lautstark die Luft aus. "Rosa... Ich... Was soll ich sagen...." Stammelt sie. Scheiße. Hat er bereits eine Neue? "Einfach raus damit. Ich werde es überleben. Er hat eine Neue, oder?" Komme ich ihr zuvor und ich spüre einen unglaublichen Schmerz in meiner Brust. Aus Angst gleich laut los zu heulen, zähle ich die Blätter der Topfpflanze auf dem Tisch. "Rosa..." Höre ich Claire, sodass ich aufblicke, während sie meine Hand fest in ihre nimmt. Ich bin auf alles gefasst. Tief durchatmen. "Rosa, er hat keine andere. Ihm geht es richtig beschissen. Er leidet wie ein Hund." Sagt sie leise und sieht mich eindringlich an. So viele Emotionen spielen sich gerade gleichzeitig ab. Freude, dass er keine Neue hat... Und ein verdammt schlechtes Gewissen, dass ich es bin, der ihn so verletzt hat. Nun kann ich nicht mehr. Einige Tränen finden ihren Weg und kullern meine Wangen hinunter. Liebevoll streicht Claire sie weg. "Hey, wenn du doch auch so leidest, warum redest du nicht mit ihm?" Erkundigt sie sich. "Ich... Ich bin einfach noch nicht so weit. Ich vermisse ihn wie wahnsinnig, aber ich kann ihm im Moment nicht das geben was er braucht." Flüstere ich mit einem Kloß im Hals. "Außerdem... Weiß ich nicht ob das nochmal was wird. Er hat sich vor mir geekelt, als wir... Also beim Filmnachmittag... Als wir uns geküsst haben." Stammel ich unbeholfen. "Quatsch!" Platzt es aus Claire laut heraus. Erschrocken schaue ich mich um. Zum Glück sind wir bis auf Mick und der Bedienung alleine im Café. Aber wir haben zumindest die Aufmerksamkeit der beiden. Mit einem entschuldigenden Blick schaut Claire zur Kellnerin. "Was ich damit sagen will ist, dass Mario dich vergöttert und er sich nie im Leben ekelt. Dafür liebt er dich viel zu sehr." Flüstert Claire nun. "Ich weiß es nicht. Es fühlte sich letztens anders an. Aber wie kann ich das auch von ihm verlangen, wenn ich mich selbst noch nicht akzeptieren kann." Gestehe ich. "Die Therapien im Frauenhaus tuen mir wirklich gut, aber ich weiß, dass ich noch an einiges arbeiten muss." Füge ich hinzu. Claire schaut mich mitfühlend an. "Das kann ich verstehen. Aber ich bin so stolz auf dich, dass du daran arbeitest. Du wirst aus dieser Sache noch stärker hervor gehen. Da bin ich mir ganz sicher." Lächelt sie mich an. Ist sie nicht toll? Eine wahre Freudin. Ich erzähle ihr noch von meinen Therapien und ein wenig von meinen Mitbewohnerinnen. Natürlich ohne Namen und den Grund ihres Aufenthaltes zu nennen. Als wir uns verabschieden, versprechen wir uns jetzt mindestens einmal in der Woche zu treffen.

Hola y adios bebe - Hallo und Tschüss, Baby!Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt