Every Baby

Kapitel 92

POV Mario

Es war seltsam hier so mit Marco und Milan zu kuscheln, aber unsere Kleine nicht da zu haben. Mein Bauch fühlte sich wieder so leer an und Mittag war es inzwischen ja auch.
“Ich möchte unsere Tochter sehen”, wandte ich mich an Marco.
“Aber natürlich. Wir rufen eine Schwester, damit sie uns hin bringt”, stimmte mir Marco zu, “oder sollen wir auf Fabi und Lewy warten, damit sie auf Milan aufpassen?”
“Nein, nein. Lass die beiden nur in Ruhe Essen. Milan soll endlich seine kleine Schwester sehen”, seufzte ich.
“Gut”, nickte Marco und machte sich auf den Weg um einer Schwester bescheid zu geben.
“Na komm Milan, fit werden. Wir wollen deine Schwester besuchen”, redete ich sanft auf unseren schläfrigen Sohn ein.
“Ich darf mit?”, fragte er ganz aufgeregt und ich nickte.
“Ja, aber wir müssen ganz vorsichtig sein. Sie ist noch sehr klein”, erklärte ich ihm und Milan nickte eifrig. Ich wusste, auf ihn würde verlass sein.
Marco kam wenige Augenblicke später mit einer Schwester und einem Rollstuhl zurück. Ich wusste, dass ich diesen nutzen musste, aber trotzdem verzog ich das Gesicht.
“Milan lässt du den Papa bitte kurz los”, bat Marco und unser Sohn kam etwas widerwillig der Aufforderung nach. Dann kam Marco zu mir und hob mich hoch.
“Was tust du da?”, fragte ich schrill.
“Dich in den Rollstuhl setzen Pummelchen”, lachte er und setzte mich auch wirklich in den fahrbaren Untersatz.
“Darf ich auf deinen Schoß?”, fragte Milan und schaute mich mit großen Augen an.
“Aber natürlich mein Schatz”, erlaubte ich. Ich konnte verstehen, dass Milan jetzt möglichst nahe bei mir bleiben wollte. Seit seinem Geburtstag Ende März hatte er mich nur noch per Videocall gesehen und jetzt hatten wir den 05.06. Für meinen Sohn war das eine ziemlich lange Zeit und auch ich hatte ihn gerne wieder in meinen Armen.  
“Dann mal los”, meinte Marco und schob uns aus dem Raum. Die Schwester wies uns den Weg und blieb letztendlich vor einer Tür stehen.  
“Bitte erschrecken sie sich jetzt nicht. Ihrer Tochter geht es im Brutkasten gut. Sie können sich jetzt gleich die Hände waschen und desinfizieren, damit sie die Kleine auch berühren dürfen. Reden sie ruhig mit ihr, fassen sie sie ganz normal an. Sie mag zwar zerbrechlich wirken, aber sie tun ihr etwas Gutes. Jede Berührung und jedes Wort wirkt auf sie genau wie auf jedes andere Kind”, erklärte uns die Schwester und ließ uns rein.
Als ich meine Tochter sah, erschrak ich dennoch. Ihr kleiner Körper in diesem Plexiglaskasten. So zerbrechlich. Ich wusste, dass sie nicht litt, dass der Kasten ihr half zu überleben, aber ich konnte den Gedanken trotzdem nicht ganz wegschieben.
“Sie ist wunderschön”, murmelte Marco.
“Oh ja, das ist sie”, stimmte ich zu.
“Haben sie sich inzwischen für einen Namen entscheiden? Wir haben alle Stellen frei gelassen, aber zur Pflege der Kleinen wäre es schön, sie mit ihren Namen ansprechen zu können”, mischte sich die Schwester wieder ein.
“Wir... Wir haben noch keinen”, stammelte ich.
“Nicht schlimm. Nehmen sie sich Zeit. Lernen sie die Kleine jetzt kennen und vielleicht fällt ihnen ja dann ein Name ein. Ich werde sie jetzt zunächst erstmal allein lassen”, verabschiedete sie sich und ließ uns vier tatsächlich allein.
“Hallo meine Kleine”, murmelte Marco und legte eine Hand an das Plexiglass.
“Willst... Willst du sie richtig berühren?”, fragte ich ihn. Unsicher blickte er zu mir.
“Ich will ihr nicht weh tun. Ich weiß doch gar nicht, wie man ein Kind in dem Alter berührt”, meinte er und senkte betrübt den Blick.
“Du kannst das. Vertrau einfach auf dein Gefühl. Du wirst wissen, was richtig ist”, versicherte ich ihm, “und sonst bin ich auch noch da.”
Leider war es für mich im Rollstuhl nicht so gut möglich, unsere Tochter zu berühren. Stattdessen drückte ich Milan, der seine Schwester fasziniert betrachtete noch näher an mich und schaute zu, wie Marco ganz langsam eine Hand in den Brutkasten steckte. Ganz vorsichtig näherte er sich ihrer Wange und strich behutsam darüber.
“Wow”, murmelte er.
“Ja, wow. Es fühlt sich fantastisch an nicht wahr?”, erwiderte ich und lächelte verträumt, als ich an das Gefühl dachte, das mich durchströmt hatte, als ich Milan das erste Mal in den Armen hielt.
“Fantastisch, unglaublich, einfach unbeschreiblich”, murmelte er.

Eine Weile streichelte er sie noch und ich schaute ihm zu. Er war so liebevoll zu ihr. Der perfekte Vater.
Dann zog er seine Hand zurück.
“Danke”, sagte er und schaute mir tief in die Augen.
“Wofür?”, fragte ich.
“Danke, dass du mir zwei so wundervolle Kinder geschenkt hast. Ich liebe sie und ich liebe dich”, erklärte er mir.
“Küssen”, verlangte Milan in diesem Moment und verblüfft blickte ich zu dem jungen Mann auf meinem Schoß.
“Milan, das geht jetzt nicht”, versucht ich abzuwiegeln.

Ich liebte Marco, aber ein erneuter Kuss würde meinen Entschluss doch nur noch mehr ins Wanken bringen und das wäre nicht gut für uns alle. Ich war mit dem ersten Kuss vorhin schon zu weit gegangen.
“Papa soll Papa einen Kuss geben”, verlangte Milan erneut.
“Sollen wir?”, fragte Marco und schaute mich unsicher an.

Ich blickte ebenso unsicher zurück, nickte dann aber zögerlich. Wollte seine Lippen nochmal auf meinen spüren, seine Liebe spüren. Ich wartete gespannt und dann legten sich Marcos Lippen sanft auf die meinen.
Wir lösten den Kuss schließlich erst aus Atemnot, aber merklich ungern.
“Marco ich-”, setzte ich an.
“Später Mario, okay? Später”, bat er mich und ich stimmte nickend zu.
“Nur einen Namen für die Kleine haben wir immer noch nicht”, seufzte ich und würde Marco am liebsten nochmal küssen.
“Melli”, meinte Milan zusammenhangslos in den Raum.
“Was?”, schaute ich unseren Sohn verwirrt an.
“Melli“, wiederholte er und deutete auf seine Schwester.
“Melli. Gefällt mir”, meinte Marco, “was meinst du?“, fragte er an mich gewandt. Ich legte den Kopf schief und musterte unsere Tochter, wie sie da so lag.
“Melli ist perfekt”, stimmte ich Milans Vorschlag zu.