Kapitel 4.26 - «Röschen»

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Ω

Isabella setzte sich auf und stieg mit Dustin in ihrem Arm aus dem Bett.
„Was ist denn los?", fragte sie neugierig. Alec trat neben sie und nahm ihr Dustin ab. Isabella blickte verwirrt auf die noch offenstehende Tür. Hinter der Tür kam eine grosse schlanke Frau zum Vorschein. Ihr rotes Haar hatte sie zu einem langen Zopf gebunden, der an ihrem Rücken baumelte. Die klaren seeblauen Augen wurden durch die helle Haut und die roten Haare noch mehr betont. Als sie Isabella erblickte, presste sie die Lippen gerührt aufeinander und ihre Augen begannen zu schimmern. Irgendetwas an dieser Frau war vertraut, kam ihr bekannt vor. Isabella wollte gerade zu ihr treten, damit sie ihr Gesicht besser in Augenschein nehmen könnte, doch noch jemand kam hinter der Gemachstür hervor. Isabella stockte und schien vergessen zu haben, wie man atmet. Vor Schreck riss sie die rechte Hand vor ihren Mund. Ein riesiger Mann, breitere Schultern hatte sie noch nie gesehen, stand in ihrem Gemach. Er konnte fast mühelos die Decke berühren, wenn er seine Arme nach oben gestreckt hätte. Das braune Haar wies einen rötlichen Schimmer auf und war kurz. Kleine Falten umrandeten seine grünen Augen und sein Mund war verdeckt unter einem beachtlichen Vollbart. Seine Erscheinung war furchteinflössend und Isabella hätte möglicherweise Angst verspürt, hätten sie seine Augen nicht so voller Liebe angesehen.
„Brathair athar Raibeart(10)", keuchte sie und verharrte einen Moment still, dann sprang sie auf ihn zu und umarmte ihren Onkel. Seine Pranken schlossen sich um sie und er drückte sie fest an seine Brust.
„Mo graidhean(11)!" Er wirbelte sie umher und strich ihr zärtlich übers Haar. Sie löste sich von ihm und sah in seine weichen Augen, dann blickte sie zu der Frau:
„Tante Maud! Ich kann es kaum glauben." Maud trat zu ihnen und alle drei umarmten sich. „Wie...?! Wann?!", stotterte sie und Maud warf einen Blick zu Alec, der sich im Hintergrund hielt. Er wiegte Dustin in seinen Armen und als es still wurde, sah er auf.
„Dein Ehemann, mein Engel", meinte Maud glücklich. „Er hat uns ausfindig gemacht und", doch dann sprach Robert:
„Und uns gesagt, dass du noch am Leben seist." Seine Stimme brach: „Mein liebes Kind, verzeih uns! Wir haben dich im Stich gelassen als deine Not am grössten war."
„Onkel Robert", wisperte Isabella und hielt seinen Kopf, „bitte macht euch keine Vorwürfe. Niemand hätte es wissen können. Talbots List war geschickt." Sie drückte die Hände ihrer Tante, als Zeichen des Wohlwollens. „Ich bin nur unendlich froh, dass ich euch nun wiedersehe." Sie warf einen Blick auf Alec: „und dir mein wunderbarer Ehemann bin ich dankbar, dass du sie hierher geholt hast." Alexander nickte zufrieden.
„Wir auch", sagte Maud. „Und sieh nur, was aus unserem kleinen Mädchen geworden ist Robert... eine wundervolle Frau und nun auch eine Mutter", sagte sie gerührt. „Lass mich den Kleinen einmal sehen", bat sie und Alec kam zu ihnen. Vorsichtig legte er Dustin in ihre Arme.
„Sieh nur Robert... er ist so winzig." Onkel Robert bückte sich und strich Dustin über den Schopf:
„Er sieht aus, wie du Röschen", grinste Robert. „Kannst du dich noch daran erinnern?"
„Natürlich... du hast mich immer so genannt." Verblasste Erinnerungen stiegen auf. „Du hast mir das Reiten und Bogenschiessen beigebracht oder es zumindest versucht", lachte sie. „Mama hatte allezeit Sorge um mich, doch Papa und du, ihr habt mich immer gewähren lassen." Robert grinste. „Bitte setzt euch." Isabella wies auf den Sessel und die Chaiselongue. Maud hielt Dustin fest und Alec setzte sich zu Isabella.
„Erzähl uns was geschehen ist", forderte Robert. Sie begann zu erzählen und versuchte sich an alles zu erinnern. Beide lauschten aufmerksam ihrer Geschichte. Die Zeit verrann und Isabella berichtete was Talbot vor und was sie in seinem Hause erlebt hatte. Von ihrer Flucht und ihrem Plan nach Frankreich zu reisen, um sie beide zu suchen und wie Alec in ihr Leben getreten war. Die heiklen Stellen liess sie geflissentlich aus und berichtete schlussendlich von ihrer Hochzeit im Feldlager. Maud schmunzelte dabei, aber Isabella sah, wie Robert Alec einen prüfenden Blick zuwarf. Rasch erzählte sie weiter und kam zu der Stelle, wie Talbot versucht hatte ihr die Geheimverstecke ihrer Dokumente zu entlocken und er sich schlussendlich, nach der Flucht aller Gefangenen ausser ihr, auf den Weg zu den drei Verstecken gemacht hatte.
„Nun besitze ich vermutlich nur noch eines. Das Dokument, welches ich mit Rosco von Carlisle holen musste, ist in dem Feuer nach dem Kampf verbrannt. Und ich vermute, dass Talbot das Dokument in London zuerst geholt hatte. Wir können es selbstverständlich überprüfen, aber ich glaube wir haben nur dieses Beweisstück für die Wahrheit", schloss Isabella.
„Nein, unsere Aussage und Anwesenheit hast du auch", meinte Maud zuversichtlich. Alec nahm Isabella in den Arm:
„Du brauchst dir keine Sorgen zu machen. Der kleine Rat hat mich ja bereits angehört und meiner Version zugestimmt. Wir werden es selbstverständlich dem neuen König vorlegen müssen, da die Talbots leider auch der Peerage angehören. Aber Edmund hat ebenfalls bereits in London klargemacht, dass er mir, uns, glaubt." Sie sah ihn an:
„Aber er ist nun König und wir brauchen trotz allem Beweise, sonst werden die Zweifler annehmen der König hat nur aufgrund eurer Verwandtschaft sein Urteil gefällt." Er küsste sie auf die Stirn:
„Das ist wahr, aber nun haben wir genügend Fürsprecher. Ausserdem hat Edmund deinen Onkel und deine Tante hier persönlich kennengelernt, was beweist, dass Talbot gelogen hat." Isabella seufzte tief und schüttelte die ernsten Gedanken ab:
„Aber nun seid ihr hier... wie lange werdet ihr bleiben? Werdet ihr zurückkehren?" Sie sah die beiden an. Maud warf einen zweifelnden Blick auf Robert. Roberts Miene hatte sich bei Isabellas Fragen verdüstert. Er stand auf und nun seufzte Maud.
„Ich bin immer noch verbannt", meinte er kratzig. „Ich kann nicht nach Schottland zurückkehren, solange mich kein Chieftain aus unserem Clan begnadigt." Isabella erhob sich:
„Aber nun gehört mir Argyll Castle. Ich bin die höchste Instanz. Ich begnadige dich", sagte sie sofort. Robert zwang sich zu einem Lächeln:
„Röschen... es tut mir leid, aber nur ein Mann kann diesen Makel von mir entfernen." Es wurde still. Es war ungerecht, empfand Isabella. Alec räusperte sich:
„Bei allem Respekt... aber sind bei der Hochzeit mit Isabella nicht alle Titel und Rechte auf mich übergegangen?", fragte er. „Ich kenne mich in schottischem Erbrecht nicht besonders gut aus, dafür habe ich einen Anwalt in London." Maud sah Alexander ernst an:
„Jaa", sagte sie langsam und trat zu ihrem Bruder, „Isabella hat ihren Anteil als einzige Erbin von Duncan erhalten, doch es war ohne Ehemann noch nicht rechtskräftig. Sie hätte lediglich die Verwaltung von Argyll übernehmen können. Aber bei der Hochzeit ist der Besitz vollumfänglich auf sie und ihren Ehemann übergegangen Robert."
„Aber die Vererbung alleine reicht nicht Maud, das weisst du", er blickte zu Alec und Isabella. „Ihr müsstet in einer Zeremonie zum Chieftain von Argyll erhoben werden. Die Menschen dort müssten euch anerkennen und", er presste die Lippen zusammen, „Ihr müsstet auf den schottischen König schwören." Isabella sank das Herz. „Und ich glaube kaum, dass ein englischer adliger Feldherr sich von seinem englischen Cousin, der nun König ist, abwendet und auf einen Schotten setzt", er lachte bitter, aber Alec erhob sich:
„Die Zeiten haben sich geändert. Es gibt immer einen Weg", meinte er herausfordernd. Da waren sie, dachte Isabella, die zwei stärksten und stursten Männer in ihrem Leben.
„Nun es ist schon spät", warf Maud beschwichtigend ein und umarmte Isabella, „lasst uns das ein anderes Mal besprechen." Isabella nickte und zog Alexander an ihre Seite. Als sie ihr Gemach wieder verlassen hatten, wandte sie sich zu Alec, der nun wieder Dustin in seinen Armen wiegte. Hatte er es ernst gemeint? Die Frage musste wohl auf ihrem Gesicht zu lesen sein, denn Alec sagte:
„Ich werde einen Weg finden." Sein Tonfall war ruhig, aber bestimmt. Sie musste lächeln, natürlich er würde einen Weg finden. Isabella sah zu wie er Dustin sanft in seine Wiege legte und ihr einen Stubser gab. Wendig und geschmeidig kam er auf sie zu und zog sie mit sich ins Bett. Sachte bettete er ihren Kopf in seine Arme und kurz darauf verfielen sie beide dem Schlaf.


(10) Onkel Robert
(11) Mein Liebes


Übrigens... die letzten 100 Seiten meiner gesamten Geschichte haben hiermit angefangen! 😥 Bin etwas wehmütig!

Schottisches Feuer und englische Anmut - Band 2Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt