Kapitel 4.17 - Dorinda Stratford

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Noch bevor der erste Strahl der Sonne das Gemach erreicht hatte, war Alec aufgestanden. Im Frühstückszimmer bediente er sich an ein paar gerösteten Broten und Eiern. Wenige Minuten nach ihm, betrat Rickard das Speisezimmer. Er hatte sich Isabellas Worte zu Herzen genommen und mit Rickard ein klärendes Gespräch geführt. Es stand nichts mehr zwischen ihnen. Allerdings hatte sich Rickard im Allgemeinen zurückgezogen. Er erschien ihm rastlos und verloren. Alec kannte das von Soldaten, die im Krieg verwundet worden waren. Sie brauchten meist einige Zeit, um sich wieder an den Alltag zu gewöhnen. Rickard setzte sich mit beladenem Teller vis a vis von Alec. Er betrachtete ihn genau. Erst als Rickard aufblickte und die Stirn runzelte, meinte er so beiläufig wie möglich:
„Hast du... Penny einen Brief geschrieben?" Rickard hielt mit Kauen inne. Er schluckte seinen Bissen trocken hinunter und meinte ebenso trocken:
„Warum sollte ich ihr schreiben? Wir sind ja nicht verlobt." Er packte seine Kaffeetasse und spülte sich damit die Kehle.
„Rickard... ich hatte geglaubt, du wärst im Krieg zu Sinnen gekommen."
„Möglich... aber ich kann sie nicht in eine solche Verbindung drängen... was vorgefallen ist, wird sie nicht vergessen haben und ausserdem", sagte er bissig, „hat sie bestimmt Verehrer, die noch alle Gliedmassen besitzen." Alec sah, dass es aussichtslos war. Rickard brauchte noch Zeit. Die Tür schwang auf und Carson trat hinein:
„Mylord", sagte er steif und kam an Alecs Seite, „Mylord ein Schreiben für sie aus London." Er nahm es entgegen. Das Siegel war jenes des kleinen Rates.


To the Right Honourable. The Fourth Earl of Cumberland. The Third Earl of Surrey. First Viscount of Blackheat, Alexander John Arthur de Warenne

Wir möchten Sie und Ihre Familie höchst feierlich dazu einladen an der Krönungsfeier unseres neuen Königs Edmund Tudor dem Ersten teilzunehmen.
Wir bitten Euch, sich am letzten Wochenende des ersten Sommermonats im Palace of Westminster einzufinden.

Höchst erfreut und in baldigem Wiedersehen

Gillian Lumley


„Nun ist es offiziell", sagte Alec und hielt Rickard das Schreiben hin. Soeben kam Jackson ins Speisezimmer und spitzte die Ohren. „Unser Cousin Edmund wird zum König gekrönt... Ende Juni", meinte er erklärend.
„Das wurde aber auch höchste Zeit. Ich habe mich schon gefragt, was eine Verzögerung eingeleitet haben könnte." Er schnappte sich einen Teller und setzte sich zu ihnen. „Wie geht es Isabella?", fragte er.
„Ihr geht es gut... warum?" Alec blickte seinen Freund an. Jacksons Lippen umspielte ein Lächeln:
„Ich hatte gestern das Gefühl, dass ich nicht schnell genug aus dem Zimmer eilen konnte." Seine Augen blitzten vor Schalk. Rickards Mundwinkel zuckten leicht. Dies entlockte Alec ein Schnauben:
„Wir sind verheiratet", entgegnete er gelangweilt, doch Jackson feixte, wie ein Bengel. Die Tür ging zum vierten Mal auf und Elaine betrat den Saal:
„Guten Morgen", sagte sie förmlich und glitt an ihnen vorbei. Sie blickte ihn nicht direkt an. Alec vermutete, dass sie immer noch nicht damit einverstanden war, dass er ihre Mutter eingesperrt hielt. Zuvor war sie erzürnt darüber gewesen. Erst als Alice in das Gemach von Isabella gestürmt war, hatte sich ihre Wut etwas verloren. Aber er konnte ihr seine Zweifel nicht mitteilen. Er musste erst Gewissheit erlangen, sonst würde er zu viel Schaden anrichten.
„Heute sollte die Hebamme für Isabella eintreffen", sagte er an Elaine gewandt. Sie hob den Kopf und sah ihn an:
„Das wurde auch Zeit. Ich werde dafür sorgen, dass sie einen Schlafplatz erhält", meinte sie im Plauderton. Sie sah bezaubernd aus in ihrem hellrosa Kleid. Die Haare hatte sie zu Zöpfen geflochten und in den Nacken gesteckt. Sie war zur Frau gereift, obwohl Alec es zu übersehen versucht hatte. Es würde ihm schwerfallen, wenn sie heiratete und dann nicht mehr an seiner Seite weilte. „Alec", fragte sie, „hörst du mir zu?"
„Verzeihung, natürlich... du benötigst noch irgendwelche Dinge aus London", meinte er wissend.
„Nicht irgendwelche... Doktor O'Leary hat mir eine Liste anvertraut mit Utensilien, die Isabella benötigt. Dieses Haus ist nicht eingestellt auf Kinder, geschweige denn auf Säuglinge. Ausserdem benötige ich neue Kleider... mir sitzen meine Alten kaum mehr", meinte sie erklärend.
„Gut, dann musst du wohl fahren", sagte Alec. „Thomas wird dich begleiten", er nickte zu seinem Freund, der irritiert schluckte und dann zögernd nickte. Wie Elaine errötete gewahr Alec nicht. Rickard wäre keine gute Gesellschaft für Elaine, er würde sich bloss zurückziehen und er selbst konnte Isabella nicht verlassen, also musste Jackson daran glauben.
„Gut", sagte Elaine steif und sagte bestimmt, „wir sollten morgen aufbrechen. Ich brauche vermutlich ein paar Tage in London bis ich alles zusammen habe." Jackson nickte:
„Jawohl, Mylady."
Die Hebamme traf am späten Nachmittag ein. Eine kleine sehr kräftige Frau trat über die Schwelle des Herrenhauses und Alec war zuerst skeptisch, ob sie der Aufgabe gewachsen war. Sie war sehr kurz, kleiner noch als Isabella selbst. Ihre Arme waren athletisch und sie hatte einen fast männlichen Gang. Die Hebamme war nicht dick, Alec hätte sie gar als muskulös beschrieben, aber das schien ihm ebenfalls nicht die passende Beschreibung zu sein. Sie hatte dunkelrotes Haar, welches sie zu Zöpfen geflochten und zusammengesteckt hatte. Die Frau trug einen schwarzen Reisemantel und einen dazu passenden Hut. Zwei Taschen, die ihr Carson sofort abnahm, waren ihr Reisegepäck.
„Dorinda Stratford", sagte sie barsch und hielt ihm ihre Hand entgegen. Ihre Vorstellung war fast wie ein Befehl von ihren Lippen gekommen und Alec musste der Versuchung stramm zu stehen widerstehen.
„Alexander Lord de Warenne", meinte er und drückte ihre Hand.
„Sie sind der werdende Vater", es klang mehr wie eine Feststellung, doch er nickte trotzdem. „Ich bin seit gut dreissig Jahren als Hebamme tätig. Ich habe das Handwerk von meiner Mutter erlernt, die selbst eine berühmte Hebamme war. Ich bin hier um Ihrer Frau so gut es geht beizustehen. Ich habe möglicherweise unorthodoxe Vorgehensweisen, aber wenn Sie mich gewähren lassen, werde ich das Kind und auch die Mutter so unbeschadet wie nur möglich durch die Geburt führen", schloss sie und streifte ihren Reisemantel ab. „Können wir uns einigen?", fragte sie nun direkt. Alec blinzelte verwirrt:
„Ich glaube schon", sagte er zögerlich. „Ich denke meine Frau muss darüber entscheiden."
„Ich bin mir im Klaren, dass ich sehr taff auftrete und so viele Ehemänner verunsichere. Aber glauben Sie mir, je unsympathischer ich den Vätern bin, desto mehr lieben mich die Gebärenden." Alec war konsterniert. Er konnte nichts auf diese direkte Aussage erwidern und starrte sie an. „Nun denn, führen Sie mich zu ihrer Frau", befahl sie und Alec brachte sie bis vor die Tür seines Gemaches. Als er eintreten wollte, hielt ihn die Dame zurück: „Verzeihen Sie, Lord Surrey, aber ich möchte gerne alleine Ihre Frau kennenlernen." Sie legte ihre Hand auf die Türklinke. Er wollte widersprechen, doch sie schüttelte den Kopf. Sie trat ein und verschloss die Tür vor seiner Nase. Alec wusste nicht, ob er wütend oder belustig sein sollte. Er verharrte und lauschte an der Tür, falls Isabella nach ihm rufen sollte und ihn bat dieses unverschämte Frauenzimmer aus dem Haus zu werfen. Aber sie blieb still und nach einer Weile verzog er sich ins Arbeitszimmer. Als er am späten Abend ins Gemach trat war Isabella wieder alleine. Sie lächelte ihn zufrieden an:
„Miss Stratford ist wundervoll", sagte sie schwärmerisch und Alec hielt inne. Unwillkürlich schossen ihm die Worte von Dorinda Stratford in den Kopf.
„Sie gefällt dir?", fragte er und versuchte seine Skepsis zu verbergen. Isabella lachte:
„Allerdings... Sie hat viel Erfahrung... ist unorthodox, aber genau das macht ihren Charme aus."
„Ihren Charme? Herrje, meinen wir dieselbe Frau?", sagte Alexander und schlüpfte zu ihr unter die Decke.
„Eine kleine muskulöse dunkelrothaarige Frau?" Alec murrte. „Ja es ist dieselbe. Sie erinnert mich an die Heilerinnen in Schottland. Sie hat mir einige Übungen zur Entspannung gezeigt, die ich praktizieren soll. Je besser die Lage des Kindes sei, desto einfacher würde die Geburt werden." Alec betete den Kopf seiner Frau in seine Armbeuge. Er stupste ihre Nase an, küsste sie zärtlich und sagte:
„Wenn sie dir gefällt, darf sie bleiben", witzelte er und sie kuschelten sich aneinander.

Schottisches Feuer und englische Anmut - Band 2Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt