wahrheit oder pflicht

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„Wie und mit wem war dein erstes Mal?", fragte mich die Stimme.

Ich zögerte.

Das war eine Frage, die ich nicht beantworten wollte. Mein erstes Mal war noch nie gewesen. Abgesehen davon dass ich einem Austauschschüler aus Kanada in der Sportumkleide einen geblasen hatte, konnte ich echt nichts erzählen. Ich hatte wirklich keine Lust da jetzt drüber zu reden. Ich seufzte:

"Pflicht!"

Eigentlich hatte ich keine andere Wahl, als meine Entscheidung nochmal zu ändern, denn ich hatte keine Lust hier intime Sachen über mich preiszugeben beziehungsweise dass ich noch nie wirklich intim gewesen war mit irgendwem.

"Küss Wes! Mal sehen, ob ihr euch wirklich so sehr hasst, wie alle immer behaupten.", befahl mir diese komische Stimme.

Ich lachte.

Nein!

Das würde ich niemals machen.
Ein Johlen ging durch die Runde und ich merkte jetzt erst, dass voll viele Leute hier waren, weil ich nur verschwommen nichts erkennen konnte. Wesley starrte mich an.

"Ich bin sehr sehr sehr betrunken, aber ich werde nie betrunken genug sein, um dich zu küssen.", behauptete ich und sah ihn etwas hilflos an.

Er kam näher an mein Gesicht.

"Mir ist schlecht.", flüsterte ich in sein Ohr und hoffte, dass es sonst niemand hören konnte.

"Ihr müsst nur für zwei Sekunden eure Lippen aufeinander drücken. Kommt schon! Seid keine Weicheier!", hörte ich die Stimme wieder sagen.

Wer war das denn jetzt bitte?

"Machen wir es? Es ist nur ein Kuss.", lallte er in mein Ohr und streifte dabei mit den Lippen meine Wange.

Wieso machte ich nur so ein Drama darum? Es war nur ein Kuss. Wes hatte ausnahmsweise mal Recht. Außerdem würde sich morgen sowieso niemand mehr daran erinnern können, weil alle zu betrunken waren einschließlich er und ich. Es war eine Handlung, die ich in einem nicht zurechnungsfähigen Zustand getan hatte. Kein Drama!

"Meinetwegen!", zischte ich und setzte mich so auf sein Schoss, dass wir uns ansehen konnten.

Ich nahm sein Gesicht in meine Hände und holte seinen Kopf etwas näher zu mir, weil er mir viel zu groß war.
Eigentlich war das Ganze schon irgendwie ein Fehler. Man hörte keine Menschen um uns herum reden. Es war irgendwie seltsam still. Das einzige, was man hörte, war die Musik. Aus irgendeinem Grund zögerte ich noch, aber Wes erledigte das einfach. Ich dachte, dass er eher so „hart" küsste. Eigentlich legte er einfach seine Lippen auf meine. Ganz sanft und nicht so besitzergreifend. Das kam erst, nachdem ich wahrscheinlich von dem vielen Alkohol in meinem Blut den Kuss erwiderte und vertiefte.
Es war, als wäre irgendwo die Zündung bei mir durchgebrannt. Das löste etwas komisches in mir aus. Ich wusste nicht genau, was es war. Irgendwie wollte ich ihn küssen. Ich wollte es. Wir hatten beide nicht das Bedürfnis jemals wieder auf zu hören. Das Küssen wurde verlangender und nicht mehr wirklich so sehr zärtlich. In dem Moment wollte ich einfach Wes spüren und er mich anscheinend auch. Seine Zunge suchte meine. Mir fiel überhaupt nicht mehr ein, wieviel Leute uns eigentlich zuschauten, da meine Augen die ganze Zeit zu waren. Irgendwie war es eben schon komisch, wenn sich zwei Menschen küssten, die sich ein Leben lang gehasst hatten. Okay, so alt waren wir noch nicht.

"Wir sollten aufhören.", murmelte Wes irgendwann und ich kam wieder zurück in die Realität.

"Mein Kumpel und meine Schwester also.", hörte ich eine Stimme neben mir.

Geschockt drehte ich mich in die Richtung. Verschwommen erkannte ich meinen Bruder.

"Da-das war ein Spiel.", stotterte ich hilfesuchend.

"Du bist vollkommen dicht, Belle.", stellte er fest und musterte mich.

"Das ist nicht ihre Schuld.", meldete Wes sich dann doch noch zu Worte.

"Habt ihr euch gegenseitig abgefüllt? Kann man euch eigentlich alleine lassen?", meinte Jakob etwas sehr aufgebracht.

"Um es genau zu sagen haben wir gewettet, wer mehr in sich reinbekommt. Ich möchte nicht darüber reden, wer gewonnen hat.", erklärte ich ihm.

"Ihr seid unmöglich. Wie kann man sich nur so sehr hassen?", seufzte mein Bruder und half mir dann hoch.

"Ihr könnt euch jetzt um euch selbst kümmern.", machte Wesley den anderen klar, dass sie nervten und folgte Ja, der mich im Arm trug, nach draußen.

Ehrlich? Mir tat jede einzige Körperzelle weh. Mein Kopf dröhnte. Meine Beine fühlten sich viel zu schwer an.

"Sollen wir dich mitnehmen?", bat mein Bruder Wes an, der das Gebot dankend annahm. Er war sogar so nett und öffnete Ja die hintere Autotür, sodass dieser mich hineinheben konnte. Dann setzte sich mein Bruder auf den Fahrersitz und Wes nahm neben ihm Platz.

"Hast du was zu sagen?", wollte Jakob von ihm wissen.

Anscheinend dachten sie, dass ich sie nicht hören konnte.

"Sie kann gut küssen.", erwiderte Wesley und lachte.

"¡Cállate, maldito horrible y repugnante! (auf deutsch: Halt dein Maul, du scheusslicher und ekelhafter Fuckboy!)", murmelte ich vor mich hin.

"Tu yo tambien, perra sucia (auf deutsch: Du mich auch, dreckige Schlampe)", antwortete Wes ebenfalls auf spanisch.

Fuck. Wieso hatte mir niemand gesagt, dass er spanisch sprach? Mein Bruder schwieg. Wir bogen links ab und waren dann an der prächtigen Riesen-Villa von Mister Scott.

"Tschau!", verabschiedete sich Wes von meinem Bruder.

"Wir sehen uns am Freitag, wenn du den Boden schrubben musst.", erinnerte ich ihn.

Er sagte nichts mehr, was vermutlich auch besser so war. Sein Blick zeigte mir wieder den gewohnten Hass mir gegenüber, als er die Tür schloss und mein Bruder wieder losfuhr.

"Was hast du dir nur dabei gedacht?", zischte er mich nun jetzt an.

"Ach, komm schon! Ich war doch ganz brav.", lachte ich und zog das A von brav ziemlich in die Länge.

"Wir reden darüber, wenn du wieder in einem nüchternen Zustand bist.", bestimmte er.

Es stimmte schon, dass ich sehr besoffen war. Ganz meine Schuld war es ja nicht gewesen. Okay, irgendwie ja schon! Eigentlich musste ich mich schon schämen. Das, was vorhin passiert war, würde mich noch ewig verfolgen.
In der verdammten Menschheit durfte man eben nichts falsch machen. Aber das war eine einmalige Sache gewesen und das würde sich auf keinen Fall wiederholen. Denn das
einzige Gefühl, das ich für Wes empfand, war und blieb Hass. Ich hasste ihn und seine arrogante Art. Er konnte jede haben.
Was mich betraf, war das etwas anderes. Ich behandelte eben alle Menschen grundlos scheiße. Deshalb sollte ich mich nichtmal wundern, wenn ich einmal aufwachte und niemand mehr für mich da war, weil ich alle von mir wegstieß.

One day you'll understand whyWo Geschichten leben. Entdecke jetzt