Kapitel 27

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„Ach komm mal her, meine Kleene." Opa zog mich zur Begrüßung in seine Arme. „Wir haben dich viel zu lange nicht gesehen." Ja, das stimmte. Das letzte Mal hatten wir uns vor bald einem halben Jahr zur Taufe meiner Nichten gesehen. „Schön, dass ihr uns alle besucht." Auch Oma umarmte uns alle herzlich. „Und Phil hast du den Reiseführer gespielt?" Mein Bruder nickte wortlos. Er war heute ziemlich still und sah total müde aus mit den dicken Augenringen. „Warst du denn auch mit zu dem Konzert?" Wieder kam nur ein Kopfschütteln. Das war echt komisch. „Wie war denn überhaupt das Konzert", wandte sie sich an uns andere. „Das war der echte Wahnsinn", platzte es begeistert aus Lucy heraus und Luca stimmte ihr zu. Beide begannen quasi stereo zu erzählen. Na ja, meine Begeisterung hielt sich in Grenzen. Ehrlich gesagt hatte mich der Voract mit der Gitarre mehr beeindruckt. Ich hatte die meiste Zeit damit verbracht die Tontechniker zu beobachten. Die hatten echt zutun. „Und du hast die vier zur Arena gefahren?" „Nein, wir mussten uns ein Taxi nehmen, weil er kurzfristig abgesagt hat", klärte Luca auf. „Wahrscheinlich ist ihm ein Date dazwischen gekommen", setzte er dann noch nach. Es war deutlich zu spüren, dass mein Freund den Lebensstil meines Bruders mit seinen ganzen ständig wechselnden Weibergeschichten nicht wirklich akzeptierte. Die Frage war nur warum. Na ja, eigentlich war die Antwort ziemlich einfach. „Wie war denn dein Date?" Onkel Felix, der uns schon mit seiner Familie auf der Terrasse erwartet hatte,  musterte Phil und winkte grinsend ab, ehe er ihm kumpelhaft auf die Schulter klopfte. „Du brauchst gar nicht zu antworten, so zerstört wie du ausschaust. War wohl eine lange Nacht." Phil nickte wieder nur. „Ich werde dann mal das Essen holen.", beendete Oma das Thema. „Lass mal, ich mache das schon." Mein Bruder und freiwillig helfen? Da war etwas mega faul. Ich schaute wieder zu Phil. Nee, der sah nicht nur groggy, sondern auch irgendwie traurig aus. „Ich helfe ihm", entschuldigte ich mich und startete ihm schnell hinterher. Als ich in die Küche kam, lehnte Phil mit geschlossenen Augen am Kühlschrank. Ich wusste doch, dass da was war. Mit schnellen Schritten lief ich zu ihm und schlang meinen Arm um seine Taille, ehe ich mit dem anderen über seinen Rücken strich. „Was ist denn passiert? Das war doch kein Date." Diesmal schüttelte er den Kopf und brachte ein gequältes „Natürlich nicht", heraus. „Oder hältst du mich auch für so oberflächlich, dass ich euch deshalb nicht fahre." Diesmal schüttelte ich den Kopf und antwortete empört „Natürlich nicht. Also was ist passiert?" Phil schnaufte einmal tief durch. „Ich habe einen Anruf aus der Klinik bekommen, gleich nachdem ich euch am Hotel abgesetzt habe. Es war ein Notfall. Ein Pferd hatte eine schwere Kolik." Kolik? Das war doch ziemlich gefährlich. Ich konnte mich daran erinnern, dass Phils Pferd auch einmal eine hatte und da eine ziemliche Aufregung herrschte. „Hatte Salomon nicht auch einmal eine?" Phil nickte. „Ja, ist schon eine Weile her. Bei ihm ist es aber gut ausgegangen. Und heute Nacht....." Er brach mitten im Satz ab und fuhr sich mit seinen Händen durch das Gesicht. „Was war heute Nacht?" Ich strich ihm mit meiner Hand sanft über seinen Arm. „Die Stute hatte nicht so viel Glück wie Salomon. Der Besitzer hat viel zu spät erst mitbekommen, dass sie eine Kolik hatte. Sie ist uns einfach auf dem OP Tisch verreckt." Phil schluckte schwer und ich sah, dass seine Augen verdächtig glitzerten. Schnell schlang ich meine Arme um seinen Hals und zog ihn an mich. „Das ist doch aber dann nicht deine Schuld", versuchte ich ihn zu trösten. „Doch, wir hätten sie retten müssen. Weißt du, damals, als das mit meinem Salomon war, habe ich beschlossen, dass ich Tierarzt werden will, damit so etwas nicht noch einmal passiert." Das hatte ich gar nicht gewusst. Aber irgendwie passte es zu dem Teil meines Bruders, den ich in letzter Zeit immer besser kennenlernte. Wie sollte ich ihn aber jetzt trösten? Ich drückte ihn einfach ganz fest an mich. „Du wirst irgendwann der beste Tierarzt der Welt. Schließlich bist du ja auch der beste Bruder auf der Welt geworden. Auch, wenn es etwas gedauert hat." Okay, das war eine ziemlich dünne Argumentation. Phil gab ein belustigtes Schnauben von sich und zwickte mich in die Seite. „Das lag nicht an mir. Ich war schon immer der beste Bruder auf der Welt. Das lag an dir, weil du es nicht mitbekommen hast. Und wenn Max das hört, wird er ganz schön traurig sein." Ein schlechtes Gewissen überkam mich sofort. „Schau nicht so" Phil zog mich wieder an sich und drückte mir seine Lippen auf die Stirn. „Das war ein Scherz. Du musst nicht immer gleich ein schlechtes Gewissen haben und versuchen es allen recht zu machen. Und Max will auch nur, dass es dir gut geht." „Na dann können wir ja lange warten, dass das Essen kommt." Oma kam in die Küche und schaute uns grinsend an. „Es ist aber richtig schön euch so zusammen zu sehen. Geschwister sollten immer zueinander halten." Sie zwinkerte uns zu, ehe sie sich ernst an Phil wandte „Und was ist jetzt wirklich los? Das mit dem Date war doch Blödsinn, das kannst du mir nicht verkaufen." „Ihr merkt auch alles", brummte Phil und fing an Oma von der Kolik zu erzählen. Ich schnappte mir schnell zwei Schüsseln, bevor der nächste hier auch noch in die Küche marschiert kam. „Bienchen, gib her, die sind doch bestimmt schwer." Luca stand plötzlich vor mir und griff nach den Schüsseln in meiner Hand. Ja, so riesige Schüsseln mit Kartoffel- und Nudelsalat waren wirklich nicht leicht. „Ich wollte euch gerade helfen kommen." Das war aber lieb von ihm. Ich drückte ihm einen Kuss auf die Wange. „Danke. Ich gehe dann noch den Rest holen." An der Küchentür hörte ich Phils Stimme „Danke, dass du immer für mich da bist." So emotional kannte ich meinen Bruder gar nicht. Ich linste um die Ecke und sah, wie er meine Oma umarmte. Bis vor kurzem hätte ich nie gedacht, dass hinter dem großmäuligen Angeber und Aufreißer so ein sensibler Kerl steckte, auf den man sich immer verlassen konnte, der aber ab und zu auch mal jemanden brauchte. Da sah man mal, wie man sich in den Menschen täuschen konnte.

Schuss und Treffer im Auswärtsspiel - Teil 9  ✔️Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt