Kapitel 71

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„Danke, dass du mitgekommen bist." Will schaute mich mit seinen blauen Augen an und ich sah dort etwas, was ich bis jetzt noch nie gesehen hatte. Wieso hatte er Angst? Oder besser gesagt, wovor hatte er Angst? Er würde doch gleich seine Mutter sehen. Wir waren gleich nach dem Geburtstagsfrühstück los gefahren. „Dein Vater ist bestimmt richtig sauer, dass du nicht noch länger seinen Geburtstagstisch und den Geburtstagskuchen anhimmelst." Ja, Papa hatte wieder einmal maßlos übertrieben. Jeder von uns hatte seinen Tisch mit einer extra angefertigten Leuchtreklame mit dem jeweiligen Namen bekommen. Und natürlich eine riesige Thementorte. Meine war dieses Jahr eine Gitarre mit lauter Notenschlüssel verziert. „Das mache ich doch gerne. Ob deine Mama sich über den Kuchen freut?" Wir hatten ein Stück von meiner Torte für sie abgeschnitten. Ich war mir aber nicht so sicher, ob sie den wirklich aß, bei ihrer Diagnose. „Freuen wird sie sich ganz sicher. Die Frage ist nur, ob sie sich dann hinterher wieder den Finger in den Hals steckt." Bei der Art, wie er das sagte, wurde mir klar, wovor er Angst hatte. Er war sich nicht sicher, in welchem Zustand er seine Mutter hier vorfand und ob die Therapie wirklich schon Erfolge zeigte. So wie er mir erzählt hatte, war es ja auch nicht die erste Therapie, die sie machte und bis jetzt hatte keine wirklich lange geholfen. Klar, dass er da Angst hatte und skeptisch war. „Warum hast du eigentlich keinen Führerschein?" Diese Frage brannte mir schon seit gestern auf der Seele, aber ich war nicht dazu gekommen sie Will zu stellen, weil wir ständig von irgendwem aus meiner Familie umringt waren. In Stella und Luna hatte Will wohl richtige Fans gefunden, besonders nachdem er ihnen versprochen hatte, dass sie ihn das nächste Mal, wenn sie in Berlin waren, im Studio besuchen durften. Heute morgen hatte er sogar für jeden von uns ein kleines Geschenk. Ich musste schmunzeln, wenn ich an die Teetasse dachte, die er mir geschenkt hatte. Auf ihr war der Liedtext von meinem ersten eigenen Lied abgedruckt. „Na ja, ein Führerschein kostet halt und ich hatte kein Geld dafür bis jetzt übrig. Außerdem was soll ich mit einem Führerschein, wenn ich mir sowieso kein Auto leisten kann." Er zuckte mit den Schultern und lief einfach zur Anmeldung des Kurheims. Manchmal vergaß ich einfach wie viel anders doch sein Leben gegenüber meinem gelaufen war. Bei uns hatte jeder den Führerschein bezahlt bekommen und anschließend stand ein Auto vor der Tür. „Wir müssen in den dritten Stock. Zimmer 326", informierte mich Will und stapfte zum Fahrstuhl. Nachdem die Fahrstuhltüren sich hinter uns schlossen, schaute ich in sein regloses Gesicht. „Es wird ihr besser gehen", versuchte ich ihn aufzumuntern. „Das denke ich jedes Mal und dann...." Er brach abrupt den Satz ab und schluckte fest. In diesem Augenblick sah ich das verzweifelte kleine Kind vor mir, dass nicht wusste, wie es seiner Mutter helfen konnte und dass schon viel zu oft hilflos war. „Ich weiß ja, dass es eine Krankheit ist und dass.... dass es nicht meine Schuld ist, aber...." Wieder schluckte er heftig und ich sah seine Augen verdächtig glänzen. „Verflucht, ich habe solche Angst, dass sie sich irgendwann wirklich zu Tode hungert." Er wischte sich mit seiner Hand über das Gesicht. „Ich habe doch nur noch sie", hörte ich nur ganz leise seine brüchige Stimme. In mir zog sich alles zusammen, Will so leiden zu sehen und ich machte einen Schritt auf ihn zu und zog ihn fest in meine Arme. „Sie wird wieder gesund. Diesmal schafft sie es. Das sind hier echte Spezialisten. Du hast doch gestern gehört, was meine Mama gesagt hat." Ja, Mama kannte dieses Therapiezentrum und wusste, dass sie einen sehr guten Ruf und sehr viel Erfolg mit ihrem Ansatz hatten. Will nickte, wirkte aber nicht überzeugt. Scheinbar hatte er da schon zu viel mitgemacht, um wirklich Hoffnung zu haben. „Du hast recht. Es wird schon", brummte er und machte sich von mir los, als die Türen sich öffneten. Ich sah, wie er seine Schultern straffte und auf dem Flur links und rechts nach der Zimmernummer seiner Mutter Ausschau hielt. Sein Gesichtsausdruck war wieder absolut neutral. Keine Spur mehr von seinen Emotionen, die eben aus ihm herausgebrochen waren. Das war überhaupt nicht gut, wenn er die immer unterdrückte. Vielleicht wäre es auch ganz gut, wenn seine Mutter die mal sehen würde. Wenn sie sehen würde, wie viel Leid sie ihrem Sohn bereitete, würde sie vielleicht einen viel größeren Sinn darin sehen, etwas zu ändern. Will legte seine Hand auf die Türklinke des Zimmers 326 und atmete noch einmal tief durch, ehe er sich ein Lächeln in sein Gesicht zauberte und die Türklinke herunterdrückte. Ich folgte ihm ins Zimmer. Seine Mutter saß am Tisch am Fenster und vor ihr stand eine Nähmaschine, die von Stoff umgeben war. Erschrocken schaute sie auf, ehe sich ihr Gesicht in ein Lächeln verwandelte als sie Will sah. Das musste dieses Lächeln sein, das man immer mit einem Sonnenaufgang verglich. „Willi was machst du denn hier?" Sie sprang von ihrem Stuhl auf und kam zu uns gerannt. Ihrem Sohn fiel sie sofort um den Hals. Sie sah wirklich schon viel kräftiger und energiegeladener aus. „Wie bist du überhaupt hergekommen? Die Bahn ist doch viel zu teuer."  Will räusperte sich und deutete mit seinem Kopf in meine Richtung. „Maja hat mich gefahren." Sie ließ ihn los und zog mich sofort in ihren Arm „Unsere kleine Biene Maja." „Mama!" Will schüttelte seinen Kopf und ihm war anzusehen, dass es ihm peinlich war. „Du erdrückst Maja ja gleich.", setzte er schnell noch nach. „Ich freue mich ja so, dass ihr mich besucht. Ich habe schon vor langer Weile angefangen zu nähen." Sie deutete mit ihrer Hand zum Tisch. „Wir haben Ihnen auch etwas mitgebracht." Ich reichte ihr die kleine Schachtel mit dem Kuchen. „Du musst mich doch nicht siezen, Maja. Du gehörst doch fast schon zur Familie. Außerdem heiße ich Tanja." Sie nahm mir die Schachtel ab und schaute hinein. „Das....das ist ja ein Kuchen." Ich war mir nicht sicher, ob sie ihn mir gleich wieder zurückgeben würde. „Ja, Maja hat heute Geburtstag. Deshalb sind wir auch hier. Ihre Familie wohnt in Dortmund." Tanja zog mich sofort wieder in ihre Arme. „Dann herzlichen Glückwunsch. Wie alt wirst du denn?" „Zwanzig" Sie begann zu strahlen. „Das ist ein wunderbares Alter. Ich habe Willi mit 20 bekommen. Er ist mein schönstes Geschenk. Sein Vater war damals auch genauso 25, wie er jetzt." Ich sah, wie Will die Augen verdrehte. Tanja lief zu ihrem Kleiderschrank und zog etwas heraus. „Wie gut, dass ich ein Geschenk für dich habe. Leider wusste ich ja nicht, dass ihr kommt, sonst hätte ich es eingepackt." Sie reichte mir eine zusammengefaltete Patchworkdecke. Ich breitete sie vor mir auf dem Bett aus. Die war echt unglaublich. Aus lauter kleinen Stoffstücken hatte sie eine große Blüte geformt, die in weitere Stoffstücken eingefasst war. „Ich hoffe, sie gefällt dir." Diesmal war ich es, die sie umarmte. „Die Decke ist ein Traum." Ich sah, wie sie sich einmal kurz mit ihrer Hand über die Augen fuhr. „So und jetzt lasst uns den Kuchen essen." Sie lief zu einem anderen Schrank und holte Besteck aus einer Schublade. „Das ist das Gute, dass man hier vorgesorgt hat, damit ich immer essen kann, wenn ich möchte." Sie trennte ein Stück von dem Kuchen ab und schob ihn sich in den Mund. „Mmm, der ist total lecker." „Na Hauptsache er bleibt auch in deinem Magen", brummte Will. „Natürlich tut er das. Ich habe hier schon viel begriffen. Glaub mir, Willi." So ernst wie sie ihren Sohn anschaute, glaubte ich es ihr sofort. Ihr Sohn schien aber noch seine Zweifel zu haben. Sie schob sich die zweite Gabel Kuchen in den Mund und verzog ihr Gesicht zu einer genießerischen Miene. „Was habt ihr denn heute an Majas großem Tag noch vor?" Neugierig schaute sie uns an und lächelte. Ja, von ihr hatte Will eindeutig dieses Lächeln, das er viel zu selten zeigte. Ich begann zu erzählen. „Wow, das ist dann ja wirklich ein Großgeburtstag. Da will ich euch mal lieber nicht länger aufhalten. Deine Eltern können bestimmt jede helfende Hand gebrauchen bei so vielen Kindern." Ich schüttelte den Kopf. „Nein, da lässt mein Papa sich nicht helfen. Er plant garantiert ab morgen schon den Geburtstag für das nächste Jahr." „Das ist schön, dass Willi da so in eine Familie kommt, die noch weiß, was Familie bedeutet." Tanja schaute zufrieden zu ihrem Sohn, der das Gesicht verzog als hätte er plötzlich Zahnschmerzen. Die Tür wurde aufgerissen und eine Pflegerin kam herein. „Frau Wolter, Sie haben jetzt ihre Gesprächstherapie. Oh, Entschuldigung. Ich wusste nicht, dass sie gerade Besuch haben. „Das ist kein Problem. Ich komme sofort." Die Pflegerin verschwand wieder. „Ihr seht, ich bin gerade gefragt. Ihr beide macht euch jetzt einen schönen Tag und ich würde mich freuen, wenn ihr es vielleicht noch einmal schafft kurz hereinzuschauen, bevor ihr wieder fahrt am Dienstag." Sie umarmte uns herzlich. Als sich unsere Wege trennten, sah ich wie sie sich kurz verschämt über ihre Augen wischte. Ich kannte Tanja zwar kaum, aber ich mochte sie und wollte ihr so gerne helfen.

Schuss und Treffer im Auswärtsspiel - Teil 9  ✔️Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt