Kapitel 67

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Will hatte mich gestern wirklich den ganzen Weg von Kreuzberg bis nach Dahlem mit dem Fahrrad gestrampelt. Wir waren fast zwei Stunden unterwegs. Aber es war unglaublich lustig gewesen. Ja, definitiv, wie mir mein Bauch sagte, als ich mich bewegte. Ich hatte Muskelkater im Bauch vom vielen Lachen. Das war mir schon ewig nicht mehr passiert. Jetzt war ich aber in meinem Auto auf dem Weg zu Wills Tonstudio unterwegs. Ich war echt schon gespannt, wie es dort aussah. Und bei dem Gedanken an die Probeaufnahme hüpfte mein Herz in meiner Brust und mein Magen kribbelte.   „Bei nächster Gelegenheit links abbiegen." Ich war gerade an der Kreuzung, wo es zu meinen Großeltern ging vorbei gefahren. Dann war das Studio ja wirklich ganz in der Nähe von ihnen. Komisch. Hier waren doch nur lauter Doppelhäuser. So ein Studio hätte ich mir irgendwie mehr in einem alten Fabrikgebäude oder in einem modernen Prunkbau vorgestellt. Ich folgte einfach den Anweisungen meines Navis. „Sie haben ihr Ziel erreicht." Ich hielt an und schaute mich um. Mmh, das war ein echt eigenartiges Gebäude. Es sah aus wie ein Einfamilienhaus, das man auf ein altes flaches Industriegebäude gestellt hatte. Neben dem Haus parkte ein alter Hubschrauber auf der freien Gebäudefläche daneben. Ob ich hier wirklich richtig war? Langsam stieg ich aus meinem Auto aus und schaute mich um. Das Quietschen von Fahrradbremsen ließ mich Aufatmen. „Hi, du bist ja auf die Minute pünktlich." Will sprang von seinem Fahrrad und ich musste wieder an gestern Nacht denken. Sofort spürte ich wieder meine empörten Bauchmuskeln. „Na dann komm mal mit in den Bunker." Will öffnete eine schwere. Metalltür und ich folgte ihm. „Bunker?" Jetzt war ich aber neugierig. „Ja, das ist ein Bunker aus dem zweiten Weltkrieg. Er hat voll die dicken Mauern und ist dadurch schon alleine perfekt für ein Tonstudio. Mein Chef hat ihn vor ewigen Zeiten gekauft und als Tonstudio umgebaut. Sein Haus hat er obendrauf gebaut." Okay, das erklärte den eigenartigen Bau. „Und der Hubschrauber?" Will fing an zu lachen. „Den hat er da hingestellt als Platzhalter bis das Label so erfolgreich ist, dass er sich einen neuen flugbereiten leisten kann. Das kann aber noch ein Weilchen dauern." Ich schaute mich im Bunker um. Hier erinnerte nichts mehr daran, dass vor ewigen Zeiten hier Leute verängstigt gekauert und um ihr Leben gebangt hatten. Nein, hier war alles hochmodern eingerichtet und verbreitete eine freundliche Atmosphäre. „So, dann komm mal mit. Da hinten ist mein Reich." Will deutete in den hinteren Bereich des Gebäudes. Ich sah eine Glaskabine mit einem Mikro und davor ein Mischpult. „So, jetzt rein da mit dir." Er schob mich in die Glaskabine und reichte mir Kopfhörer. Fangen wir erst einmal mit der Musik an." Mist, ich hatte meine Gitarre gar nicht dabei. Wie blöd war ich eigentlich? Erstaunt stellte ich fest, das in der Glaskabine eine Gitarre stand. „Ich dachte mir schon, dass du deine nicht mitbringst." Na danke. War meine Blödheit so offensichtlich? „Außerdem ist die perfekt gestimmt und schon angeschlossen." Ich nickte und griff sie mir vorsichtig. Meine Finger versuchten sich an einem Akkord. Ja, sie war wirklich perfekt gestimmt. „Na dann setz dich und ich gebe dir ein Handzeichen, wenn es los geht." Will schloss die Tür hinter sich und ich setzte mich auf den Hocker, der bereit stand. Das war alles so unwirklich. Will winkte mir durch die Glasscheibe zu und ich begann einfach zu spielen. Die Melodie hatte ich schon so oft geübt, dass ich sie im Schlaf konnte. Trotzdem brauchte es zwölf Versuche bis Will endlich zufrieden war und seinen Kopf zur Tür hereinsteckte. „Jetzt erst einmal eine kleine Pause und dann noch den Gesang." Er schaute auf seine Uhr. „Wann musst du bei deinen Großeltern sein?" „Um 16 Uhr. Heute gibt es erst Kuchen und dann wird gegrillt." Will schaute mich irritiert an. „Grillen im Februar?" Ich nickte. „Ja, bei Opa wird das ganze Jahr über gegrillt. Er steht auch zur Not bei Schnee im Anorak im Garten und bringt uns das Fleisch dann ins warme Wohnzimmer."Ja, grillen war für Opa eine Passion. Will schaute schnell zu seiner Uhr. „Perfekt, dann haben wir ja noch zwei Stunden Zeit. Das müssten wir schaffen. Hier etwas für die Stimme." Er schraubte eine Thermoskanne auf und goss mir dampfenden Früchtetee ein. Nachdem ich den Becher geleert hatte, schob er mich wieder zurück in die Kabine und schloss die Tür. Ich stellte mich vor das Mikro und räusperte mich. Auf den Kopfhörern hörte ich die Musik, die wir vorher aufgenommen hatten. Ich begann zu singen und stoppte aber gleich wieder. Ich hatte den Einsatz verpasst. „Macht nichts", hörte ich sofort Wills Stimme. „Probiere es gleich noch einmal." Diese Ansage wiederholte er ungefähr zehnmal ebenso freundlich, weil ich entweder den Einsatz verpasste oder mich im Text verhaspelte oder einfach kurz ein Blackout hatte.  „Ich schaffe das nicht", stöhnte ich verzweifelt. „Nimm doch einfach die Gitarre und spiele mit. Vielleicht läuft es dann besser." Ich schaute ihn verwirrt an. „Aber dann hört man die doch." Er schüttelte den Kopf. „Nicht, wenn ich sie auf lautlos stelle." Ich griff sie mir und meine Finger klammerten sich um den Bund. Als jetzt das Zeichen von Will kam, setzten sich meine Finger in Bewegung und ich sang los. „Perfekt", hörte ich ein paar Minuten später seine Stimme auf dem Kopfhörer und er reckte seine Daumen in die Höhe. Ich zog mir den Kopfhörer vom Kopf und öffnete die Glastür. „Du warst absolute Weltklasse." Er umarmte mich als ich vor ihm stand. „Und das weißt du, weil du sonst immer Leute wie Justin Biber und Jennifer Lopez aufnimmst?" Will schaute mich beleidigt an. „Nee, aber beurteilen kann ich das trotzdem." Neugierig schaute ich ihn an. „Wen hast du denn schon aufgenommen?" Er fuhr sich mit seiner Hand durch die Haare. „Na ja meist sind es nur irgendwelche Werbespots für das Radio oder Leute, die keiner kennt, so wie Chris", gab er kleinlaut von sich. „Na, wenn Chris hier war, dann zweifele ich überhaupt nicht." Und das meinte ich ernst, denn er war ja mein großes Vorbild. „So, wenn wir fertig sind, dann kommst du jetzt aber mit zu meinen Oma und Opa." Will schüttelte den Kopf. „Ich kann doch da nicht einfach mitkommen. Das ist doch euer Familientreffen." Er schaute an sich hinunter. „Und schaue doch nur, wie ich aussehe." Er trug zerfetzte Jeans und ein ausgeleiertes Shirt. Ich deutete an mir hinunter. „Ich sehe auch nicht anders aus. Und außerdem hast du heute garantiert noch nichts gegessen. Du weißt doch, wie wichtig Essen ist." Triumphierend schaute ich ihn an, weil ich ihn endlich einmal mit seinen eigenen Waffen geschlagen hatte. Als Antwort bekam ich nur ein undeutliches Brummen. Oma und Opa würden sich garantiert freuen, wenn ich noch jemanden mitbrachte, den sie durchfüttern konnten.

Schuss und Treffer im Auswärtsspiel - Teil 9  ✔️Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt