Kapitel 90

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„Ich bin nicht versessen. Dein Vater ist doch total versessen auf Babys. Oder warum macht er so einen Hype um seine Enkelinnen. Max und ich interessieren doch überhaupt nicht mehr. Und deine Mutter war auch mit den ganzen Kindern als Designerin erfolgreich. Also muss ich das auch so machen." Was war das denn für eine Logik? Nur weil Papa Chrissi und Alli vergötterte, waren wir anderen doch nicht vergessen. Und Mamas Karriere hatte doch nichts mit uns Kindern zutun. Eher im Gegenteil. Es war ein Wunder, dass sie trotz uns Kindern so erfolgreich war. „Das ist doch alles Quatsch. Das ist Max und dein Leben und keins was ihr nachahmen müsst. Es geht doch nur darum, dass ihr glücklich seid und so lebt wie ihr euch das vorstellt." Papa und Mama würden niemals solche Erwartungen an sie stellen. Sie wollten einfach nur, dass ihre Kinder glücklich waren. Das wusste ich genau. Papa hatte mir das ja vorgestern auch erst in unserem Gespräch bestätigt. Leo gab einen Laut von sich, den ich nicht genau beschreiben konnte. Irgendetwas zwischen einem Schnauben und hysterischen Quietschen. „Das letzte Mal wirklich glücklich war ich vor unserer Hochzeit", schniefte sie plötzlich und ich sah Tränen über ihre Wangen laufen. „Da hatte noch niemand Erwartungen an uns", schluchzte sie weiter. Ich zog sie spontan in meine Arme und strich ihr beruhigend über den Rücken. Das Schluchzen wurde immer heftiger. Es war fast als wäre ein Damm gebrochen. Wir standen eine Weile so, ehe sie sich wieder beruhigt hatte. Ich schob sie zu einer Bank in unserer Nähe und wir setzten uns. „Ich will nicht immer alleine sein, wenn Max in Münster ist oder in der Klinik. Mir fällt schon langsam die Decke auf den Kopf. Und wenn ich mich endlich um ein Baby kümmern könnte...." „Mensch, so ein Kind ist doch kein Langeweile- Beschäftigungsprogramm. Das ist eine extreme Verantwortung, die man da hat", platzte es unüberlegt aus mir heraus. Man, wo war meine Empathie abgeblieben? „Meinst du, das weiß ich nicht", zickte sie sofort zurück. „Und wehe du sagst, ich soll mir dann doch einfach einen Hund anschaffen, damit ich beschäftigt bin. Das hat nämlich Tessa schon gemacht." Ihre Augen funkelten sauer. Okay, das war verständlich. Obwohl, so unrecht hatte meine Schwester damit ja nicht. Die Idee war nämlich wirklich auch gerade durch meinen Kopf geschwebt. „Ihr wisst ja auch nicht, wie es ist, wenn man Angst haben muss, in der Familie nur noch eine Randnotiz zu sein." Ihre Augen begannen wieder verdächtig zu glänzen. Was meinte sie denn damit? Das war doch wohl nicht ihr ernst. „Ach wirklich? Das sagst ausgerechnet du mir? Du, die mich auch an den Rand geschoben hat, weil ich mit meinem Studium Probleme hatte und mein ach so toller Freund sich dann einfach von mir getrennt hat. Du hast dich auf Papas Seite gestellt, der mich weggejagt hat. Also erzähle du mir nicht, wie es ist Außenseiter in der eigenen Familie zu sein. Denn ich war es und bilde mir nicht nur ein, nicht mehr die Nummer eins zu sein", platzte es aus mir heraus. Leo zuckte zusammen. Ups, mein Ausbruch war wohl etwas heftig. „Du hast dich ganz schön verändert", kam es leise über ihre Lippen und sie schaute mich schuldbewusst an „Du hast ja recht. Eigentlich hätte ich auf deiner Seite stehen müssen, aber....." Sie machte eine kurze Pause. „Es tut mir leid, dass ich so blöd war, aber ich dachte, dass Marco mich dann vielleicht wieder mehr beachtet. Seit die Babys da sind, hat er mich genauso in die Ecke geschoben wie mein Vater. Und wenn ich jetzt kein Baby bekomme, dann...." Sie brach den Satz ab und schlug ihre Hände vor das Gesicht. So langsam dämmerte mir aber, wo ihr wirkliches Problem lag. Es war nicht das Schwangerwerden sondern eine tierische Verlustangst. Ja klar, sie war immer der Liebling ihres Vaters gewesen bis der völlig durchgedreht war. Und seitdem war Papa ihr Ersatzvater. Wie konnte ich ihr nur klar machen, dass Papa alle seine Kinder gleich liebte und dass seine Liebe mit jedem neuen Kind oder jetzt Schwiegerkind und Enkel nur noch mehr wurde? Ihre Angst war völlig überflüssig. „Du bist seine erste Schwiegertochter. Das kann dir niemand nehmen. Egal ob du ein, zehn oder gar kein Enkelkind anbringst. Außerdem weiß ich, dass Papa dich nicht einmal als Schwiegertochter sondern als eigene Tochter sieht. Und Mama auch. Und du wirst sogar die sein, die das Familienunternehmen übernehmen wird." „Nicht, wenn da jetzt noch jemand dazu kommt, der kreativ ist und Fachwissen hat. Da bin ich bei Pursuit doch auch bald abgeschrieben." Sie spielte auf Tanja an. Es war unglaublich wie viel Verlustängste und Zweifel sich in ihr breit gemacht hatten. Ich konnte es gar nicht fassen. Leo war doch immer die Selbstbewussteste von uns allen. Was war bitte mit ihr passiert? Waren das jetzt erst die Langzeitfolgen von damals? „Das ist doch Blödsinn. Tanja wird immer nur eine Angestellte sein und du bist bei Mama in der Firmenführung." Sie zuckte mit den Schultern und schien nicht wirklich überzeugt. „Außer Stella, Luna oder Mari entscheiden sich auch für die Mode. Dann geht die Firma an die richtige Familie." Wie richtige Familie? „Was heißt hier richtige Familie? Du bist eine Reus. Du bist richtige Familie." Ich bezweifelte sogar, dass das anders wäre, wenn Max und sie nicht verheiratet wären. Für Papa und Mama gehörte Leo seit Jahren zu ihren Kindern. Punkt aus und fertig. Leo schüttelte ihren Lockenkopf. „Nee, ich gehöre nur irgendwie dazu, weil ich mit Max verheiratet bin." Sie warf mit ihrer Hand eine Haarsträhne über ihre Schulter. „Weißt du, ich möchte endlich eine eigene Familie ganz für mich. Deshalb möchte ich auch ganz schnell ein Baby, dem ich alles geben kann und das in einer heilen intakten Familie aufwächst. Das immer weiß, dass es Papas und Mamas Lebensmittelpunkt ist. Max und ich wären ganz sicher gute Eltern." Das bezweifelte ich kein bisschen. Ich fragte mich nur, ob der Zeitpunkt gerade der richtige war. „Ich möchte für meine Kinder eine intakte Familie und nicht so etwas wie bei mir." Sie schluckte heftig. „Weißt du Dani hat es ja alles ganz gut verkraftet. Er hat in Marvin seinen neuen Papa gefunden. Aber ich.....ich mag Marvin, aber er ist für mich kein Papa. Er ist nur ein Freund und der Mann meiner Mama. Und Delphie. Mit meiner Schwester habe ich schon seit vier Jahren keinen Kontakt mehr. Das ist doch keine Familie. Ich......ich will es einfach besser machen als meine Eltern."  Das konnte ich gut verstehen. Ehrlich gesagt hatte ich nie mitbekommen, dass das Ganze Leo so bedrückte.  „Und meinem Opa in der Schweiz geht es gar nicht mehr gut. Ich würde ihm noch so gerne einen Urenkel in seine Arme legen", schluchzte sie.

Schuss und Treffer im Auswärtsspiel - Teil 9  ✔️Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt