Kapitel 149

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Ich schaute mit schlechtem Gewissen auf das Buch, das auf der Kommode lag. Es war ein Fachbuch für die Soziologieprüfung, die ich heute schrieb. Mein Blick ging zu meiner Uhr. Es war gerade sieben Uhr. Wenn ich mich jetzt noch sofort hinsetzte, dann hatte ich noch fünf Stunden round about Zeit, bis ich zur Uni los musste. Das war nicht wirklich viel, aber immerhin mehr als in den letzten drei Tagen seit meine Eltern mit Mari hier waren. Okay, am Freitag hatten sie versucht mich wegen des Konzerts abzulenken. Dafür war ich ihnen auch dankbar, denn ohne sie wäre ich wahrscheinlich durchgedreht. Der Samstag war dann natürlich durch den Auftritt nicht als Lerntag in Frage gekommen. Durch die ganze Aufregung wäre selbst wenn ich Zeit gehabt hätte nichts hängen geblieben. Und gestern, gestern war Sonntag. Da hieß es erst einmal ausschlafen und dann Familientag bei Oma und Opa, was ja auch schön war, mich jetzt aber vor das Problem stellte, dass ich definitiv zu wenig gelernt hatte. Andererseits war ich gestern auch ziemlich k.o.. Der Auftritt in der Waldbühne hatte mächtig geschlaucht. Meine Sorge, dass die Leute mich dort gar nicht sehen wollten, war völlig unbegründet gewesen. Sie hatten mich schon mit Jubel und Applaus empfangen. Wenn ich nur daran dachte, bekam ich sofort wieder Gänsehaut.  Sie hatten mitgesungen und mitgefeiert. Unglaublich! Und sie hatten sich nicht mit nur einer Zugabe zufrieden gegeben. Ich musste sage und schreibe dreimal zurück auf die Bühne, weil sie geklatscht, gebrüllt und getrampelt hatten. So etwas hatte ich noch nie erlebt. Das war so unglaublicher Wahnsinn. Ich schüttelte den Kopf. Ja, aber das würde mir in ein paar Stunden in der Prüfung rein gar nichts nützen. Den Prof würde es nicht interessieren, ob ich so viele Leute begeistern konnte - genau genommen, war mir das ja selbst suspekt - ihn interessierte nur die fehlerfreie Beantwortung seiner Fragen. Und da hatten wir definitiv ein Problem. Ich würde sie nicht fehlerfrei beantworten können. Gefühlt würde ich sie gar nicht beantworten können. Schlagartig zog sich mein Magen zusammen wie ein Stein. „Maja, du sollst frühstücken kommen!" Mari kam ins Zimmer gesaust und strahlte mich breit an. „Papa hat Rührei gemacht und Mama Pancakes." Bei dem Gedanken an Essen zog sich mein Magen noch mehr zusammen. „Los jetzt!" Meine kleine Schwester zerrte mich an der Hand mit sich. Im Vorbeigehen fiel mein Blick noch einmal zu dem Fachbuch und ich griff es mir. Ich hatte jetzt keine Zeit zum Essen. Ich musste lernen. „Ach, da kommt ja unser Superstar!" Papa grinste mich stolz an, als ich ihm gegenüber Platz nahm. Ehe ich überhaupt etwas sagen konnte, tat er mir schon Rührei auf. Das duftete ja lecker, trotzdem wurde mir bei dem Anblick leicht übel. Schnell schlug ich mein Soziologie Buch auf, um mich von der Übelkeit abzulenken. „Was soll das denn?! Beim Frühstück wird doch nicht gelesen. Sonst kannst du ja gar nicht mein Rührei richtig genießen!" Papa schaute mich empört an. „Ich lese hier doch auch nicht Zeitung." „Nee, Schnutzelchen, aber nur weil der Sportteil mittlerweile in kleine Videos online verpackt ist.", kam es grinsend von Mama. „Kann er überhaupt lesen?" Wo kam denn Phil her? Im nächsten Moment spürte ich ein aufgeregtes Stupsen an meinem Knie. „Meine kleine Susi ist da!" Ich beugte mich hinunter und hob unseren Welpen hoch. Sofort wurde mein Gesicht abgeleckt. „Süße, bist du gewachsen in den zwei Wochen!" Das war ja unglaublich wie groß sie schon geworden war. „Ja, sie werden ja so unglaublich schnell groß und selbstständig", kicherte Phil albern in Anlehnung an normale Eltern. „Und dann brauchen sie einen gar nicht mehr. Nicht wahr, alter Mann?" Papa verzog sein Gesicht. „Meine Kinder werden mich immer brauchen, nur Großmäuler nicht", grummelte Papa. Ja, für ihn war es wichtig von uns gebraucht zu werden und unersetzlich zu sein. Aber das waren Väter und Mütter ja auch. Man konnte sich immer auf sie verlassen, wenn man sie brauchte. Trotzdem konnten sie mir jetzt bei der Prüfung nicht helfen. Schlagartig wurde mir wieder total übel. Ich musste dringend noch lernen. Schnell griff ich wieder nach dem Buch, während ich mit der anderen Hand Susi kraulte. „Pack das Buch weg und iss lieber." Manno Papa! „Ich muss aber bald zur Prüfung und ich kann noch gar nichts", stöhnte ich. Als ich diesen Satz ausgesprochen hatte, wurde mir schlagartig klar, dass er zu 100 Prozent zutraf. Ich konnte noch gar nichts! „Dann wirst du es jetzt auch nicht mehr lernen. Iss lieber ordentlich, damit du da nicht zusammenklappst wie beim letzten Mal." Wie beim letzten Mal?! Ich spürte wie mir speiübel und eiskalt wurde. Beim letzten Mal hatte ich total versagt. Das durfte auf keinen Fall wieder passieren. Aber es würde wieder passieren. Das wusste ich ganz genau. Ich würde vor den Aufgaben sitzen und wahrscheinlich nicht einmal ein Wort als Antwort hinschreiben können. „Anstatt jetzt in dem Buch zu blättern hättest du es dir einfach unter das Kopfkissen heute Nacht legen sollen, dann hättest du jetzt alles im Kopf", grinste Papa mich breit an. „War klar, dass das deine Technik war", grunzte Phil, während er sich Rührei auftat. „Beim Kicker bekommt man davon ja auch keine Halsstarre." „ich habe das mit meinen Schulbüchern gemacht, Großmaul" Papa funkelte Phil an. „Welchen Schulabschluss hast du noch mal?" Phil konnte aber auch nicht aufhören zu provozieren. „Hauptschul, aber...", knurrte Papa als Phil schon abwinkte. „Das erklärt vieles. Mit mal reingucken in die Bücher, wäre bestimmt auch Realschule möglich gewesen." „Immerhin hat mein Schulabschluss gereicht, um....." Ich spürte, wie mir übel wurde und sprang auf. Im Bad schaffte ich mich gerade noch würgend über das Klo zu beugen. Ein paar Minuten später spritzte ich mir kalt Wasser ins Gesicht und putzte mir schnell noch einmal meine Zähne. Meine Beine waren wie Pudding. Ich versuchte mehrmals tief durchzuatmen. Ich konnte hier nicht schon wieder zusammenklappen. Ich musste doch eine Prüfung schreiben. Ja, aber die würde ich so in den Sand setzen. Und dann hatte ich wieder einen Fehlversuch. Das ging nicht. Ich konnte doch nicht schon wieder Onkel Felix um ein Attest anbetteln. Ich konnte aber garantiert auch nicht die Prüfung schreiben. Was sollte ich denn jetzt machen? Erst einmal zurück in die Küche gehen und nachdenken, wäre doch ein Anfang. Ich öffnete die Tür und schaute direkt in ein besorgtes Gesicht.

Schuss und Treffer im Auswärtsspiel - Teil 9  ✔️Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt