Kapitel 117

336 53 12
                                    


Heute war Donnerstag, der Tag der Prüfung. Wohlgemerkt der ersten Prüfung, die ich dieses Semester schreiben würde. Ich musste mich beim Lernen nur noch etwas mehr reinhängen, damit ich auch die anderen drei noch schaffte. Phil hatte mir geraten einfach auch die Nachschreibetermine für meine Erstversuche zu nutzen. Dann hatte ich mehr Zeit und musste nicht alles auf einmal lernen. Ich atmete einmal tief ein, ehe ich mir meinen Rucksack schnappte und aus dem Auto ausstieg. Ich würde da jetzt reingehen und das Ding rocken. Das war doch gar kein Problem, auch wenn ich die letzten zwei Nächte Will zu liebe nicht mehr gepaukt hatte. Obwohl, so ganz stimmte das auch nicht. Ich hatte in seinen Arm gekuschelt gelegen und versucht einfach so alles in meinem Kopf zu wiederholen, was ich tagsüber gelernt hatte, während er beruhigt schlief. Blöderweise war dabei nicht allzu viel herausgekommen und es hatte mich noch wuschiger und kribbeliger gemacht, so dass ich dann nicht einmal mehr früh richtig eingeschlafen war. Mist, ich hatte niemals genug gelernt. Mit jedem Schritt, den ich der Uni näher kam, wurden meine Beine immer schwerer. Es war fast so, als wollten sie sich weigern dort hinein zu gehen. Wahrscheinlich wussten sie, dass ich die Prüfung niemals bestehen würde und wollten mich vor dieser Schmach schützen. Nein, ich musste das schaffen. Ich durfte auf keinen Fall wieder versagen. Das konnte ich meinen Eltern nicht antun. Ich spürte, wie mir übel wurde. Nein, ich würde das schaffen. Ich musste das schaffen. Ich blieb einmal kurz vor der Tür stehen, schloss meine Augen und atmete tief ein. Energisch zog ich die Eingangstür auf und marschierte in das Gebäude. Bei dem Geruch, der mir entgegenschlug, wurde mir wieder übel. Nein, so ging das nicht. Das sollte sofort aufhören. Wie auf Autopilot lief ich weiter.  Ich konnte mich unmöglich konzentrieren, wenn ich die ganze Zeit das Gefühl hatte, meine Magensäure zu schmecken. Wieder blieb ich stehen und atmete mehrmals hintereinander tief ein, bis ich mich etwas besser fühlte. Als ich mich umschaute, stellte ich fest, dass ich bereits vor dem Prüfungsraum angekommen war. „Hallo, Maja! Hast du auf mich gewartet?" Sina umarmte mich zur Begrüßung. Ich nickte nur, schließlich konnte ich ihr ja wohl schlecht sagen, dass ich eigentlich nur versucht hatte meine Unsicherheit weg zu atmen. Was sollte sie denn dann denken, wo sie sich so bemüht hatte, mit mir alles nachzuarbeiten. „Ich bin vorhin noch einmal schnell die ganzen Fachtermini durchgegangen. Die kommen bestimmt dran. Jedenfalls hat das eine aus dem Soziologiekurs behauptet, die den Grundlagenkurs letztes Semester belegt hatte." Fachtermini? Sofort flogen Wörter wie Evaluation und Resonanz durch meinen Kopf. Von Resonanz sprach man, wenn ein Körper (oder ein Luftvolumen) durch einen anderen schwingenden Körper zu verstärkten Schwingungen angeregt wurde. Ja, aber in der Musik. Was hatte Resonanz in der Pädagogik zu bedeuten? In meinem Kopf befand sich ein Vakuum. Da schwang überhaupt nichts. „Ich kann mir immer die blöde Schreibweise von Resilienz nicht merken. Jedesmal vergesse ich ein e oder ersetze es durch ein i. Das ist echt zum Haare raufen. Das gibt garantiert Punktabzug." Resilienz? Was sollte das sein? Ich spürte wie meine Lunge sich zusammenzog und ich das Gefühl hatte kaum noch Luft zu bekommen. Schon wieder hatte ich den Geschmack von Magensäure in meinem Mund. Meine Beine waren plötzlich wie aus Gummi und fühlten sich an, als würden sie gleich unter mir nachgeben. Ich griff nach dem Heizkörper an dem wir gerade standen und krallte mich fest. „Was...." Sina schaute mich schockiert an und schlug ihre Hände vor den Mund „Scheiße, du bist ja käseweiß. Maja, du klappst mir hier jetzt nicht ab. Ich kann nämlich kein Blut sehen. Und wenn du dir da am Heizkörper den Kopf einschlägst, dann kippe ich auch um und schlage mir meinen auch ein. Und das geht nicht, weil dann ja alles, was wir gelernt haben da einfach rausfließen würde. Und dann war alles umsonst." Ich hörte ihr Geplapper wie durch Watte. Atmen. Ich musste unbedingt atmen. Dann würde es bestimmt gleich besser werden. Mit tiefen Atemzügen pumpte ich so viel Luft wie möglich in meine Lungen. Wenigstens spürte ich schon mal meine Beine wieder. „Na dich schickt ja der Himmel!" Sinas sich überschlagende Stimme zog meine Aufmerksamkeit auf die Person, die sie fast angesprungen hatte. „Sie ist mir gerade fast aus den Latschen gekippt und ich kann doch kein Blut sehen. Und ich habe keine Ahnung was ich machen sollte, aber jetzt bist du ja da", plapperte Sina schon wieder ohne Punkt und Komma. „Phil!", stieß ich auch aus. Mein Bruder befreite sich von Sina und griff sofort nach meinem Handgelenk. „Dein Puls rast ganz schön!" Er schaute mich besorgt an. „Mir geht es schon wieder gut", versuchte ich ihn zu beruhigen. „Ich gehe schon mal rein und halte dir einen Platz frei", verabschiedete sich Sina von uns beiden. Resilienz schrie es laut durch meinen Kopf. „Phil, ich kann da nicht rein und die Prüfung schreiben. Mein Kopf ist wie leer. Papa wird stinksauer, wenn ich das wieder gegen die Wand setzte", platze es schluchzend aus mir heraus. Mein Bruder schlang seine Arme um mich und zog mich ganz fest an seine Brust. „Hast du wieder Prüfungsangst, kleine Maja?" Beruhigend strich er mit seiner Hand über meinen Rücken. „Ich habe keine Prüfungsangst, ich kann einfach nichts. Ich hatte nicht genug Zeit, um mich vorzubereiten." Das war doch etwas ganz anderes. „Wenn ich da jetzt rein muss, falle ich garantiert durch." Phil schüttelte seinen Kopf. „Warum hast du dich dann gestern nicht einfach noch von der Prüfung abgemeldet?" „Das kann man?" Ich schaute ihn überrascht an. Er nickte. „Ja, das kann man. Jetzt ist es aber zu spät. Wenn du da jetzt nicht erscheinst, zählt das als Fehlversuch." Ich schluchzte auf. „Fehlversuch?!" Meine Stimme klang total hysterisch. Ja, hysterisch weil ich es auch war. Ein Fehlversuch bedeutete, dass ich nur noch zwei weitere Versuche hatte, ehe auch dieser Studiengang sich wieder für mich erledigt hatte. Und dann war wirklich Essig mit einem Studium. „Es gibt nur die Möglichkeit, dass du ein Attest vom Arzt vorlegst, dass du krank warst. Dann zählt es nicht als Versuch." Ich atmete auf. Das war gut. „Kannst du mir eins ausstellen?" Phil fing an zu lachen und schüttelte den Kopf. „Bienen zählen zwar im entferntesten Sinne auch zu meinem Fachgebiet, aber ich bin ja auch noch kein fertiger Doc. Also nein." Nein! Wo sollte ich dann dieses verflixte Attest herbekommen? Ich kannte doch hier in Berlin gar keinen Arzt. „Kennst du wohl und ich bringe dich gleich mal zu ihm in die Praxis." Scheinbar hatte ich wohl laut gedacht, wenn Phil mir darauf antwortete. Aber woher sollte ich einen Arzt hier kennen? „Ach kleine Maja, du bist echt total durch den Wind. Wir fahren jetzt zu Felix in die Praxis. Der schreibt dir schon den Wisch. Hat er für mich auch schon mal gemacht." Ich schaute Phil überrascht an. „Hattest du auch Prüfungsangst oder zu wenig gelernt?" Er schüttelte seinen Kopf. War ja klar. „Nee, ich hatte mit ein paar Leuten zu viel gefeiert und war noch nicht wieder ganz bei mir", zwinkerte er mir zu. Ob Papa und Mama das wussten? Egal, von mir würden sie es garantiert nicht erfahren. „Na dann lass uns mal zu Felix. Der macht das schon." Phil griff sich meinen Rucksack und dirigierte mich mit seinem Arm um meine Schulter aus dem Unigebäude zu seinem Auto. Irgendwie hatte ich die ganze Zeit so ein komisches Gefühl. So als würde ich beobachtet. Das lag bestimmt daran, dass ich fast zusammengeklappt war, versuchte ich mich zu beruhigen. Klar schauten einem nach so einer Panikattacke die Leute hinterher. Das war doch ganz normal. „Du hast echt Glück, dass ich dir eigentlich nur Glück für die Prüfung wünschen wollte, kleine Maja. Und jetzt rette ich dir mal wieder den Arsch", grinste Phil und zwinkerte mir zu. Ja, er war irgendwie immer da, wenn ich ihn brauchte. Als hätte er dafür ein spezielles Sonar.

Schuss und Treffer im Auswärtsspiel - Teil 9  ✔️Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt