Kapitel 46

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„Maus, ist alles okay? Geht es dir gut?" Oma schaute mich besorgt an und strich mir über den Rücken. „Alles okay", gab ich nur schnell von mir und trennte mit meinem Messer etwas von der Gänsebrust auf dem Teller vor mir ab. Oma hatte sich heute extra so viel Mühe mit dem Essen gegeben. Weil Nikolaus war, hatte sie zu unserem sonntäglichen Essen extra eine Gans mit Klößen und Rotkohl für uns gemacht und stundenlang in der Küche gestanden. Und was machte ich? Ich wusste das nicht einmal richtig zu schätzen, weil ich mit meinen Gedanken noch ganz woanders war, und nur in meinem Essen herumstocherte. Schnell versuchte ich mich auf das Essen zu konzentrieren. Es schmeckte echt lecker. Die Pelle war total knusperig und braun. Mama würde wahrscheinlich die ganze Familie um die Pelle anbetteln, weil sie die so gerne aß. Manno, warum war Mama nicht hier. Sie wüsste garantiert, wie ich mit der Situation umgehen sollte und könnte mir helfen eine Entscheidung zu treffen. Plötzlich übermannte mich mächtiges Heimweh. Mit Mama in der Nähe war mein Leben so viel einfacher gewesen. „Mensch Ramona, lass doch das Mädel in Ruhe. Sie ist bestimmt nur noch etwas müde von der Party gestern." Opa hatte wohl Omas besorgte Frage mitbekommen. „Und wenn nicht, wird sie uns schon sagen, wenn was ist. Stimmt's?" Ich nickte schnell und stopfte mir ein Stück Kartoffelkloß mit Sauce in den Mund. Opa zwinkerte mir zu und wandte sich an Phil, der natürlich sofort anfing von der Party gestern zu erzählen. Ich selbst war erst einmal noch damit beschäftigt zu realisieren, dass ich wirklich vor fast vierhundert Leuten aufgetreten war und dass die so begeistert waren, dass ich noch zwei weitere Male an dem Abend zusammen mit Chris auf die Bühne musste. Ja, musste.....denn freiwillig wäre ich da nicht raufgegangen. Aber Marcel hatte mir gar keine Wahl gelassen. Okay, er hatte mich dafür sogar mit hundert Euro pro Auftritt belohnt. Und die dreihundert Euro konnte ich gut für die Weihnachtsgeschenke gebrauchen, aber trotzdem hatte es jedes einzelne Mal für Übelkeit und einen riesigen Stein in meinem Magen gesorgt. Nee, so eine Bühne war so gar nichts für mich. „Das kann ich mir gut vorstellen, dass die Leute begeistert waren. Du hast ja auch Talent. Ich kann mich noch genau erinnern, wie ihr mit der Schule im Konzerthaus aufgetreten seid." Opas Augen glitzerten vor Begeisterung. Da konnte er sich echt dran erinnern? „Oh ja, das war so schön, wie du da das alte Cat Stevens Lied gespielt hast." Und Oma konnte sich auch daran erinnern? Sogar an das Lied. „Weißt du wie oft wir uns das immer noch auf der DVD anschauen?" Ich schüttelte den Kopf. Ich wusste ja nicht einmal, dass es eine von dem Auftritt gab. „Na bestimmt alle paar Monate", grinste Opa stolz. „Du solltest unbedingt wieder Musik machen. Das liegt dir im Blut. Das hast du von mir geerbt." Oma fing an zu lachen. „Nur weil du die Fanlieder von der Hertha mitgröhlen kannst, bist du nicht musikalisch, Micha." Opa verzog beleidigt sein Gesicht. „Ich kann singen. Ich gröhle nicht. Und außerdem habe ich früher im Jugendclub auch Gitarre gespielt. Irgendwo im Keller...." „muss auch noch eine verrotten", unterbrach ihn Oma. „Seit eure Mutter auf der Welt ist, hat er die jedenfalls nicht mehr in der Hand gehabt." Ich überlegte kurz. Mama war jetzt 45. Wow. „Kann ich mir die Gitarre mal anschauen?" Ja, ich war echt neugierig auf das Instrument. „Klar, wir gehen gleich nach dem Essen zusammen in den Keller", versprach mir Oma. Auf einmal rutschte mein Essen auch viel schneller. Genau wie der leckere Karamellpudding, den sie als Nachtisch gemacht hatte. „So dann lass uns mal in den Keller, während die Herren der Schöpfung den Tisch abräumen und den Abwasch machen." Oma stand auf, kaum dass der letzte Puddinglöffel in meinem Mund verschwunden war und zog mich auch von meinem Stuhl hoch. Opa und Phil murrten etwas. Sie hatten es sich wohl eher so vorgestellt, dass sie sich beide ins Wohnzimmer verzogen und wir uns um den Rest kümmerten. Ich musste grinsen und folgte Oma die Stufen hinunter. Nachdem wir den großen Abstellraum erreicht hatten, in dem sich sogar noch ein paar alte Möbel befanden, drehte sich Oma zu mir um und schaute mich ernst an. „So, und jetzt mal raus mit der Sprache. So wie Phil erzählt hat, war das gestern ein voller Erfolg und überhaupt kein Grund, dass du die ganze Zeit aussiehst als hätte man dir deinen Welpen geklaut. Also, was ist los?" Ich atmete einmal tief aus und dann platzte alles aus mir heraus. „Der Chris, also der Sänger, hat mich gefragt, ob ich nicht öfter mit ihm auftreten will." „Na das ist doch toll." Oma schaute mich begeistert an, ehe sie fragend den Kopf schüttelte „Ist es nicht toll?" Diesmal schüttelte ich den Kopf. Und nicht fragend , sondern entschieden. „Nein, das ist überhaupt nicht toll. Ich habe nämlich totale Angst vor den ganzen Leuten zu singen und zu versagen. Ich will ihn doch nicht blamieren. Der Chris, der macht das so super. Er schreibt sogar die Lieder zusammen mit seinem Bruder." Ja, das hatte er mir gestern noch erzählt, als er mich gefragt hatte, ob wir nicht öfter zusammen auftreten wollen. Dieser unfreundliche Will war nicht nur Tontechniker, sondern er komponiert mit ihm zusammen die ganzen Songs, die ich so toll fand. Oma hörte mir weiter still zu, während ich von Chris Stimme und Songs zu schwärmen begann. Als ich mein Fangirlen beendet hatte, schaute sie mich ernst an. „Dann könnte man ja sagen, er versteht etwas von dem, was er tut und vom Musikgeschäft?" Ich nickte. Ja klar, er war ja Profi und konnte sogar mittlerweile von dem, was er da machte, leben. Spätestens seit der Tour mit den Earthwings. „Na dann solltest du auf sein Urteil vertrauen. Wenn er der Meinung ist, dass du Talent hast und auf die Bühne gehörst, dann wird das auch so sein." Das klang irgendwie logisch, aber.... „Ich habe aber solche Angst vor den Leuten zu singen und dass etwas schief geht, oder das sie mich auspfeifen und ausbuhen. Ich habe ja schon bei Vorträgen in der Schule Blut und Wasser geschwitzt. Und das waren viel weniger Leute. Und die kannte ich."  Oma legte ihren Arm um meine Schulter. „Maus, das kenne ich auch noch. Ich war auch vor jedem Referat ein Nervenbündel, bis deine Uroma mir mal einen Tipp gegeben hat. Und der hat geholfen." „Welchen denn?" Vielleicht würde er mir ja auch helfen. „Sie hat gesagt, ich soll mir alle Leute einfach nackt vorstellen. Und sie hatte recht. Das funktioniert wirklich." Mmm, das hörte sich irgendwie creepy an, aber vielleicht.... „Wie hast du es denn gestern gelöst?" „Beim ersten Auftritt habe ich zu Phils Handy gestarrt, da war Tessa per Videocall. Und dann habe ich mich voll auf die Gitarre konzentriert." Oma schmunzelte „Ach, ihr beiden Mäuse seit einfach eine Einheit. Aber dann hast du doch deinen Weg schon gefunden. Tessa unterstützt dich bestimmt gerne. Vor allem wenn es nur mit einem Anruf getan ist. Und deine Gitarre hast du auch immer. Also, was spricht dagegen es weiter auszuprobieren? Du sollst doch nicht in irgendwelchen Stadien auftreten und Mick Jagger Konkurrenz machen, sondern nur in Marcels Club, wenn ich das richtig verstanden habe." Ich nickte. Klar, alles andere wäre ja lächerlich. „Dann ergreife die Chance. Was soll schon schief gehen. Wenn es nicht funktioniert, gehst du halt wieder nur hinter die Bar und hast eine Erfahrung mehr gemacht. Du hast doch nichts zu verlieren." Oma hatte recht. Warum eigentlich nicht? Ich hatte ja wirklich nichts zu verlieren. Und gestern hatte mir das nachher eigentlich sogar Spaß gemacht. Es war schon irre, wie wir es geschafft hatten, die Leute zu begeistern. Und solange Chris mit mir zusammen auf der Bühne war, konnte ja gar nichts schief gehen. Er war ja Profi. „So, da ist die Gitarre vom Opa." Oma drückte mir den Gitarrenkoffer in die Hand. „Und jetzt gibst du uns ein kleines Privatkonzert", zwinkerte sie mir zu.

Schuss und Treffer im Auswärtsspiel - Teil 9  ✔️Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt