Kapitel 42

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Ich griff nach meiner Gitarre. Eigentlich sollte ich lieber meine Nase etwas in meine Fachbücher stecken. Aber irgendwie hatte ich da gerade so überhaupt keine Lust zu. Vor ein paar Stunden war meine Familie abgefahren und ich vermisste sie jetzt schon. Am Samstag hatte Papa es sich natürlich nicht nehmen lassen, so lange im Club zu bleiben bis ich Feierabend hatte. Genauso wenig wie Phil, der ihm natürlich beweisen wollte, dass er immer gut auf mich aufpasste und dass das eigentlich sein Job war. Manchmal fragte ich mich, warum die beiden ständig in so einem Machtkampf waren. Wahrscheinlich lag es daran, dass sie sich charakterlich so ähnelten. Beide waren sehr starke, ehrgeizige Persönlichkeiten mit einem Hang zur Hitzköpfigkeit, aber auch zum Beschützer. Und beide zeigten das auch lautstark. Da war Max so ganz anders. Er war eher immer der Besorgte, aber Stille und Ruhige. Deshalb geriet er auch so gut wie nie mit den beiden aneinander. Früher war es genau das, was ich an ihm mochte. Dieses Vermittelnde. Aber mittlerweile war mir Phils Art viel lieber. Er packte einfach zu und man konnte sich zu hundert Prozent auf ihn verlassen. Er hatte mich wirklich unterstützt und mir geholfen als meiner Misere herauszukommen drohte, ohne darauf zu achten, ob das auch negative Folgen für ihn hatte. Im Gegensatz zu Max, der mich nur angerufen und mir Vorhaltungen gemacht hatte. Glücklicherweise waren aber seit Samstag auch die Wogen zwischen Papa und Phil wieder geglättet und er unterstützte ihn auch finanziell wieder. Schließlich musste ja Phil auch noch für sein Pferd sorgen und das war nicht ganz so billig. Ich setzte mich auf den Stuhl und legte meine Gitarre auf meinen Knien ab. Wenn ich jetzt damit übte und nicht in die Fachbücher schaute, war das ja trotzdem irgendwie etwas für das Studium machen. Schließlich studierte ich ja Lehramt auf Musik. Da gehörte nun einmal das Beherrschen eines Instrumentes auch dazu. Meine Finger glitten zum Bund und legten sich auf die Saiten, um den ersten Akkord anzustimmen. Ja wohl, ich machte gerade etwas für mein Studium, bestätigte ich mir noch einmal selbst und verjagte das schlechte Gewissen. Irgendwie klimperte ich erst einmal nur herum. Was sollte ich denn spielen? Meine Finger bewegten sich plötzlich spontan. Das....das war das Lied von Christoph, das ich schon so gemocht hatte, als ich es das erste Mal bei dem Earthwings Konzert gehört hatte. Meine Gedanken wanderten zu Luca. Da waren wir noch zusammen. Sofort breitete sich wieder dieses Gefühl in mir aus, als hätte jemand mein Herz herausgerissen und durch einen Fleischwolf gedreht. Ich musste schwer schlucken. Wenn ich nicht sofort an etwas anderes dachte, würden gleich wieder die Tränen tropfen. Klar, hatten Luca und ich in letzter Zeit öfter Meinungsverschiedenheiten gehabt. Genaugenommen seit wir studierten. Aber seit einiger Zeit waren wir endlich wieder in ruhigeren Gewässern unterwegs und mit unserer Wohnung fast im Hafen angekommen......und ich, ich hatte das alles mit einem Schlag zerstört, weil ich nie den richtigen Zeitpunkt gefunden hatte, ihm von meinem Versagen zu erzählen. Warum konnte es mit einer Versöhnung nicht genauso einfach sein wie mit Papa? Weil Luca ein Prinzipienreiter war, der niemandem seine Fehler vergab. Er kannte den Begriff zweite Chance nicht. Das hatte ich immer an ihm bewundert. Da wusste ich ja auch noch nicht, dass ich genau der Tatsache auch zum Opfer fallen würde. Obwohl.....Tessa hatte mir erzählt, dass er wohl laut Lucy seit unserer.....ähm nee, seiner Trennung von mir auch ziemlich durchhing. Vielleicht.....vielleicht gab es ja doch noch Hoffnung. Nee, bremste ich mich gleich wieder. Die Chance war eher so gering, dass ich sie gar nicht in Erwägung ziehen sollte. Nee, ich sollte mich lieber auf das jetzt und hier konzentrieren. Spontan fing ich zu meinem Gitarrenspiel an zu singen. Ja, den Text von Christoph kannte ich schon auswendig, weil er einerseits so schön und andererseits auch so traurig war. Aber irgendwie passte er genau zu meiner Stimmung und meiner Situation. Ich versank ganz in der Musik und dem Gesang, der tief aus meinem Herzen kam. Sofort spürte ich diese Entspannung, die immer über mich kam, wenn ich in letzter Zeit eine Gitarre in die Hände nahm. Sofort war aller Kummer und Sorgen vergessen und es gab nur mich und die Musik.
Applaus riss mich aus meiner Bubble und ich schaute auf. Da standen Phil und Nessa in meiner Tür und klatschten. „Wahnsinn! Ich wusste gar nicht, dass du so eine geile Stimme hast." Nessas Augen leuchteten begeistert. „Bei dir kommt noch mehr Gefühl rüber als bei Chris. Und der ist schon der Wahnsinn." Sie schaute vorwurfsvoll zu Phil „Warum hast du mir nie erzählt wie geil deine Schwester singen und Gitarre spielen kann?" Mein Bruder zuckte mit den Schultern. „Weil du nie danach gefragt hast." Nessa boxte ihn in die Seite. „Idiot!", kicherte sie. Phil lachte auch und begann sie spielerisch zu kitzeln. Eigentlich wären die beiden ein echt süßes Paar, wenn da nicht.... Mir schoss ein Gedanke durch den Kopf. War es vielleicht möglich, dass Nessa doch noch ihre sexuelle Orientierung änderte? Vielleicht stand sie ja doch noch irgendwann auf Männer. Obwohl nee, warum auch? Ich würde mich ja auch nicht plötzlich zu Frauen hingezogen fühlen. Mein Blick ging wieder zu den beiden, schade eigentlich. Nessa ließ sich auf mein Bett plumpsen. „Man, man, man. Wenn ich Dad das erzähle, schmeißt er glatt Chris raus und nimmt dich als neuen Musicact." „Was!" Ich starrte sie schockiert an. „Du erzählst ihm auf keinen Fall davon." Allein schon bei dem Gedanken vor anderen Leuten zu spielen, ergriff mich die blanke Panik. Zum Singen würde ich nicht einmal den Mund aufbekommen. Nee, so viel Aufsehen war nichts für mich. Dazu fühlte ich mich auch hinter der Bar viel zu wohl. „Schon gut." Nessa hob beschwichtigend ihre Hände. „Du bist ja auch ein echtes Talent am Cocktailshaker." Ja, Cocktails machten mir mittlerweile echt Spaß. Papa war am Samstag total von meinen Kreationen beeindruckt gewesen. Plötzlich fing Nessa an zu gackern. „Ich musste gerade an das saublöde Gesicht von dem Schwabencasanova denken als er dich am Samstag hinter der Bar entdeckt hat." Oh ja, Mika hatte ziemlich blöd geguckt. Obwohl schockiert traf es wohl besser. „Wie er dich gefragt hat, Was machst du denn hier, ich denke du hast heute frei" Nessa imitierte seinen Tonfall perfekt. „Und wie er plötzlich versucht hat das Weib beiseite zu schieben, das er vorher im Arm hatte." Sie schüttelte ihren Kopf. „Wenn ich immer solche Spacken erlebe, weiß ich wenigstens, warum ich nicht auf Männer stehe." Ja, da lag sie vielleicht gar nicht so falsch. Solche Idioten, die einen verarschten und nebenher noch eine Hand voll anderer Weiber hatten, brauchte wirklich niemand. Ich kam mir so blöd vor. Scheinbar sah man mir das auch an. „Der bekommt von mir noch eine richtige Ansage, wenn er dich nicht in Ruhe lässt", knurrte Phil. Am besten sagte ich ihm nicht, dass Mika seit Samstag Nacht im Stundentakt Nachrichten an mich schrieb. Ich machte mir seit den ersten drei, in denen er mir erklärte, das sei alles gar nicht so, wie es aussah, schon nicht mehr die Mühe sie zu lesen. Nee, auf so eine Freundschaft oder noch schlimmer Beziehung konnte ich echt verzichten. Da orientierte ich mich dann doch lieber wie Nessa.

Schuss und Treffer im Auswärtsspiel - Teil 9  ✔️Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt