Kapitel 85

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Ich schaute auf die Uhr. Es war gerade 21 Uhr, als ich die Wohnungstür hinter mir schloss. Wir hatten bis 20 Uhr noch bei Oma und Opa im Garten Ostern gefeiert. Opa hatte natürlich wieder seinen Grill angeworfen und Will hatte ihm sogar assistieren dürfen, was eine echte Auszeichnung war. Das hatte auch Onkel Alex hervorgehoben. Sehr zum Missfallen von Papa, der sich dem Grill nicht einmal auf zwei Meter Entfernung nähern durfte. Nach der Feier hatte ich Will und Tanja nach Hause gebracht und war dann schweren Herzens weiter zu Phils Wohnung gefahren. Ja, schweren Herzens, auch wenn meine Familie hier war. Liebend gern wäre ich bei Will geblieben. Aber das war ja im Moment noch nicht möglich. Genau, noch nicht. Es wurde Zeit, dass ich das mit Papa ein für alle Male klärte und er akzeptierte, dass Will zu mir und somit auch zur Familie gehörte. Im Flur schlüpfte ich aus meinen Schuhen und stellte meinen Rucksack auf die Garderobe. Ich fischte das Plektron heraus und strich mit meinem Finger vorsichtig darüber. Ja, dieses kleine Teil war für mich noch wertvoller als jedes Edelmetall oder jeder Diamant. Es war einfach das Persönliche, was es so wertvoll machte und der Gedanke, der dahinter steckte. Ich musste an Leokardia und Max denken. Irgendwie tat mir mein Bruder leid. Er versuchte alles, um es seiner Frau recht zu machen und schob Überstunden, um sie mit überteuerten Geschenken zu trösten, dass sie noch nicht schwanger war. Ich schüttelte meinen Kopf. Im Grunde war das doch komplett irre. Leo war doch auch gerade erst zwanzig und Max einundzwanzig. Warum war es so wichtig so früh schon ein Kind zu bekommen? Vielleicht sollten sie doch erst einmal ihren Platz im Leben finden und sich aufeinander besinnen. Ich hatte heute das Gefühl, dass das Thema Baby sie eher trennte als verband. Max hatte den ganzen Tag ziemlich geknickt gewirkt und Leo hatte jeden angezickt, der ihr nicht schnell genug aus dem Weg gegangen war. Ich sollte mal das Gespräch mit Max suchen. Bestimmt konnte er ein wenig seelische Unterstützung gebrauchen. Vielleicht sollte ich auch Phil mit einbeziehen. Ich dachte wieder an das Gespräch, dass ich vor einem dreiviertel Jahr mit Leo auf ihrer Terrasse geführt hatte, bevor bei mir alles komplett schief gelaufen war. Das beste wäre, wenn ich Phil auf Max ansetzte und mich um Leo kümmerte. Außer mir und Tessa hatte sie ja keine Freundinnen. Und so lieb ich meine andere Hälfte hatte, war sie auf keinen Fall diejenige, die da ein empathisches Gespräch führen konnte. Das war dann mehr mein Job. Und so ganz sicher war ich mir da auch nicht, ob ich den wirklich erfüllen konnte. Aber einen Versuch wäre es wert. Oft half es ja, wenn man einfach jemand hatte, der einem zuhörte. „Na, meine kleine Biene!" Ich zuckte erschrocken zusammen. Papa schien wie ein Indianer unterwegs zu sein. Ich hatte ihn überhaupt nicht kommen gehört. So leise wie es hier in der Wohnung war, war das ein Wunder. „Schlafen schon alle?", flüsterte ich ihm zu. „Nee, nur Chrissi, Alli und Mariska. Die anderen wollten noch eine Runde spazieren gehen. „Was hast du denn da?" Neugierig linste er auf meine Hand. „Das ist ein Plektron. Ich habe es von Will bekommen." Papa zog es mir aus den Fingern und schaute es sich an. „Das ist ja ein Bild von Tessa und dir." Papa schien total erstaunt. „Ja, Will dachte, das hilft vielleicht gegen mein Lampenfieber, wenn Tessa immer dabei ist." Er brummte nur. Eigentlich war doch jetzt, wo wir hier alleine waren der perfekte Moment, um mit ihm ein Gespräch wegen Will zu führen. Blöd, dass ich mir nicht vorher überlegt hatte, was ich ihm sagen wollte. Früher hätte ich mir schon ein paar Tage vorher einen Zettel gemacht und in meinem Kopf verschiedene mögliche Gesprächsverläufe durchgespielt. Ja, das war früher. Aber jetzt war heute. „Warum hast du eigentlich was gegen Will?", kam ich also direkt zum Punkt. Papa verzog sein Gesicht. „Mm", brummte er und lief einfach mit meinem Plektron in der Hand ins Wohnzimmer zum Sofa. Ich folgte ihm. Er glaubte doch wohl nicht, dass ich das Brummen als Antwort gelten ließ. Mit einem Plumps setzte ich mich neben ihn und zog ihm wieder mein Plektron aus der Hand, das er immer noch betrachtete. „Also, was hast du gegen Will?", hakte ich nach. Papa fuhr mit seiner Zunge über seine Lippen und sah aus, als überlegte er, was er antworten sollte. „Du warst lange mit Luca zusammen und ihr seid unschön auseinander gegangen." Ja, das fasste er ziemlich gut zusammen. Aber was hatte das mit seinem Verhalten gegenüber Will zu tun? „Ich glaube nicht, dass du schon wieder bereit für eine neue Beziehung bist." „Wie bitte? Sollte ich das nicht selbst am besten wissen?", platzte es sauer aus mir heraus. Papa hob seine Hand. „Deine Reaktion ist doch der beste Beweis, dass du nicht ganz du selbst bist. Du bist die ruhige durchdachte Maja und nicht die hitzköpfige Tessa. Der Kerl hat dich doch schon völlig verändert. Er hat deine Verletzlichkeit nach der Trennung ausgenutzt und dich manipuliert. Er passt doch überhaupt nicht zu dir." Ich hatte doch wohl Hörstörungen. „Und ob Will zu mir passt. Besser als Luca es je getan hat. Mit Will fühle ich mich sicher. Er steht zu mir und unterstützt mich. So glücklich wie mit ihm war ich noch nie. Er ist das Teil, dass immer bei mir gefehlt hat." Papa schüttelte seinen Kopf. „Das hört sich wie aus einem deiner Lieder an. Ich verstehe ja, dass Luca dich verletzt hat und wenn er aus Spanien zurück ist, nehme ich ihn mir auch noch einmal zur Brust. Aber der Tontechniker kann dir doch überhaupt nichts bieten. Luca wird garantiert einmal ordentlich Karriere in der Wirtschaft machen. Da wird es dir an nichts fehlen." Ich schüttelte ungläubig den Kopf. Das war doch nicht Papas Ernst? „Luca und mich wird es nie wieder geben. Und nur mal zu deiner Kenntnis, Frauen brauchen keinen Mann, der sie versorgt. Das können wir auch alleine", warf ich ihm sauer entgegen. „Schau doch nur, wie du dich verändert hast!" „Ja, zu meinem Vorteil", blaffte ich ihn an. „Endlich glaube ich dank Will auch an mich selbst und schaue nicht nur, was mein Freund von mir erwartet. Will hat mir das Selbstbewusstsein gegeben, das zu machen, was ich für richtig halte." Das ich betonte ich besonders. „Aber das macht er doch nur, um an deinem Talent mitzuverdienen und dich auszunutzen. Schau ihn dir doch nur an, er ist ein halbstarker Rocker, der bestimmt auch Drogen nimmt und dich dann in diese Kreise mit hineinzieht." Jetzt platzte mir aber der Kragen. „Will nimmt weder Drogen noch ist er ein Rocker. Er ist ein verantwortungsbewusster Kerl, der nicht die Chance genutzt hat, mit seinem Bruder auf Tour zu gehen, weil er seinen Job nicht riskieren wollte. Den braucht er nämlich, um sich und seine Mutter zu versorgen." Das zeigte doch wohl, dass er ein ganz Lieber war. Warum zweifelte Papa überhaupt daran? Er hatte ihn doch schon ein paarmal kennengelernt und nie hatte Will ihm Anlass gegeben, solche Vorurteile zu treffen.

Schuss und Treffer im Auswärtsspiel - Teil 9  ✔️Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt