Die Gämsen-Pagode war, so sagte man, die am besten befestigte Festung, die je gebaut worden war. Hohe Mauern in einem strahlenden Weiß umgaben sie als könnten weder Regen noch Schnee ihnen etwas ausmachen. Dahinter befand sich das eigentliche Bauwerk, erhob sich aus dem Windlilien-Hang, der sich wie eine Schlange von Norden nach Süden durch die Landschaft zog. Man könnte denken, dort befände sich nur ein Gebäude – die besagte Pagode –, doch dem war nicht so. Ursprünglich gab es nur sie, ja, aber im Laufe der Zeit wurden weitere Häuser und Hütten gebaut und die Anführer der Val-Gilde waren einfach zu faul, um sich einen neuen Namen für ihren Sitz auszudenken. Oder sie waren sich nicht einig. Oder sie hatten nie daran gedacht, den Namen zu ändern, weil ihre Köpfe mit anderen, wichtigeren Sachen beschäftigt waren.
Die Val-Gilde war berühmt für ihre umfassende Sammlung an Schriften, die Wissen vermittelten, das von Generation zu Generation weitergegeben wurde. Die Gründerin der Gilde selbst – Val Varisse – hatte diese Sammlung im obersten Geschoss der Pagode eröffnet und mittlerweile nahm sie über acht weitere Stockwerke ein. In den untersten lagerten die, die für den Unterricht wichtig waren. In den obersten... Nun, was dort war, das wussten nur sehr wenige.
Jedes Jahr schickten die Anführer verschiedenster Gilden ihre Kinder und einige ihrer jüngeren Anhänger zur Val-Gilde, damit sie dort alles lernten, was ihnen in ihrem weiteren Leben nützlich sein würde. Normalerweise passierte das, wenn sie fünfzehn Jahre alt waren und, wenn sie nicht vorher rausgeschmissen wurden, kamen sie als achtzehnjährige, reifere und um einiges gebildetere Erwachsene wieder zu ihren Familien zurück. Sie waren zu echten Erzwächtern geworden, wie jene hießen, die in der Gämsen-Pagode ausgebildet worden waren. Die Meister der Val-Gilde waren streng, das wusste jeder, und sie zögerten nicht davor, ungezogene Schüler mit Peitschenhieben und Stockschlägen zu bestrafen, auch wenn man dafür wirklich viel tun – oder besser gesagt nicht tun – musste.
Am frühen Morgen schon herrschte in der Gämsen-Pagode reger Betrieb. Schüler verschiedenen Alters rannten hin und her und beeilten sich, rechtzeitig zur Öffnung des Tores zu kommen. Heute war nämlich der Tag, an dem die neuen Kinder ankamen, um sich ihren Meister auszusuchen. Die meisten freuten sich darüber, denn endlich konnten sie vor den Neuankömmlingen mit ihrem Wissen und ihren Fähigkeiten angeben, so wie die anderen älteren Schüler es zuvor bei ihnen nach ihrer eigenen Ankunft getan hatten. Und es gab keinen Unterricht, was sowieso immer angenehm war. Schließlich mussten die Meister der Gämsen-Pagode anwesend sein, wenn die Neuen kamen.
Die Augen aller waren erwartungsvoll auf das Tor gerichtet, das quälend langsam aufschwang. Dahinter offenbarte sich die steinerne Brücke, über die sie alle einst die Gämsen-Pagode betreten hatten. Es war der einzige Weg hinein. Ein reißender Fluss, der von allen Gilden anders genannt wurde, weil jeder ihn auf irgendeine Weise für sich beanspruchte, trennte die Mauern der Pagode vom Wald auf der anderen Uferseite. Er floss am Grund dieser Schlucht entlang. Wenn man an der Brüstung der Brücke stand und runter sah, konnte man das schäumende Wasser sehen, das über die kantigen und spitzen Steine rauschte.
Die versammelten Schüler fingen an, laut zu klatschen, als die ersten Fünfzehnjährigen über die Brücke schritten und durch das Tor traten. Wie erwartet waren die Anhänger der Ghan-Gilde als erstes angekommen. Die dunkelgraue Kleidung, auf die schwarze Krähenfedern als Verzierungen aufgestickt waren, war unverkennbar. An der Spitze der Gruppe ging ein hochgewachsener Junge, der ein Selbstbewusstsein ausstrahlte, das ziemlich selten anzutreffen war. Seine schwarzen Haare wehten im Wind leicht hin und her, doch als er zwischen die schützenden Mauern trat, fielen sie ihm mit einem Mal ins Gesicht. Trotzdem schaffte er es, sie auf eine elegante Art und Weise wieder zurück zu streichen und zwinkerte einem der anwesenden Mädchen schelmisch zu, die sofort rot im Gesicht wurde und sich hinter ihrer Freundin versteckte.
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Grüner Habicht und Roter Drache
AdventureBis zu seinem fünfzehnten Lebensjahr wächst Rin Verran mehr oder weniger behütet in seinem Zuhause, dem Phönix-Hof, auf. Obwohl er nur der uneheliche Sohn des Gilden-Anführers ist, träumt er davon, ein berühmter Erzwächter und Krieger zu werden. In...