Kapitel 11: Blumen - Teil 4

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Es vergingen ganze drei Monate, bis die Meister verkündeten, dass die Räuber sich aus dem Territorium der Val-Gilde zurückgezogen hatten und weiter nach Norden gewandert waren. Rin Verran und Rin Raelin sorgten sich viel um ihre Familie, die ihren Wohnsitz, den Phönix-Hof weiter nördlich hatte, aber ein Brief von Rin Jadna beruhigte sie wieder. Ihre Schwester berichtete ihnen, dass bei ihr alles gut war und sie vor hatte, eine eigene Musikschule zu gründen, um den Kindern aus den umliegenden Städten und Dörfern ein Instrument beizubringen.

Dass die Räuber weitergezogen waren, bedeutete aber auch, dass die Schüler des dritten Jahres die Gämsen-Pagode wieder verlassen konnten. Rin Verran wurde allein bei dem Gedanken daran unwohl. Immer wieder hatte er versucht, genug Mut aufzubringen, um Arcalla anzusprechen, aber jedes Mal, wenn er kurz davor war, zu ihr zu gehen, hatte er im letzten Moment doch noch abgewunken und sich gesagt, jetzt wäre nicht der richtige Augenblick und er hätte ja noch Zeit. Doch jetzt hatte er keine Zeit mehr.

Mehr als die Hälfte des Jahres war bereits um. Erst gestern hatte es geschneit und eine feine, weiße Decke lag auf den Dächern der Häuser und der Gämsen-Pagode selbst. Die Schüler trugen nun die dicke Winterkleidung der Val-Gilde und eilten mit eingezogenen Schultern und schnellen Schrittes umher. Der Atem stand ihnen in weißen Wolken vor dem Mund.

Bestimmt ist auch der Knochenbrecher zugefroren, dachte Rin Verran in Gedanken an sein Geheimversteck – das er bisher immer noch niemandem gezeigt hatte –, während er betrübt nach draußen schaute, wo es gerade wieder zu schneien angefangen hatte. Die Flocken fielen fast schnurgerade zu Boden, denn durch die hoch aufragenden Mauern wurde der Wind draußen gehalten.

Die fünf Jungen, mit denen er und Rin Raelin sich die letzten Monate das Zimmer geteilt hatten, hatten ihre Sachen bereits gepackt und die Gämsen-Pagode verlassen. Nur noch einige wenige Schüler waren im Falkennest geblieben. Größtenteils Mädchen, die sich mehr Mühe dabei gaben, ihre Kleidung ordentlich zusammen zu legen. Arcalla und ihre zwei Freundinnen gehörten zu ihnen.

»Worüber denkst du nach?«, fragte Rin Raelin von der anderen Seite des Zimmers. Er lag in seinem Bett, die Füße auf die hintere Kante gelegt. Einer davon war mit einem festen Verband umwickelt, denn vor einiger Zeit war er beim Kampfunterricht umgeknickt und hatte sich den Knöchel verstaucht. Jeder andere Meister hätte ihm frei gegeben, aber Meister Jhe bestand darauf, dass er weiterhin zum Kampfplatz kam. Schließlich bräuchte er keine Beine, um mit dem Bogen umzugehen.

»Nur noch ein und halb Jahre«, antwortete Rin Verran einsilbig.

»Nur noch?« Rin Raelin schnaubte. »Für meinen Geschmack ist das viel zu lange. Überleg nur, wie lange wir schon hier sind. Genauso lange müssen wir noch hier bleiben.« Er stockte und runzelte die Stirn. »Ich möchte am liebsten sofort zurück zum Phönix-Hof.«

»Ich auch.« Ich habe noch etwas mit Vater zu klären, dachte er in Gedanken an seine Mutter, die offenbar zur Mehn-Gilde gehört hatte, bevor diese ausgelöscht worden war.

»Was hat Jadna dir eigentlich neulich geschickt?«, wollte Rin Raelin wissen und richtete sich leicht auf. »Das war kein Brief, sondern ein Päckchen. Und auch nur an dich adressiert. Was war da drin?«

Rin Verran spürte einen Stich in seiner Brust, überspielte den Schmerz aber mit einem Grinsen. »Geheime Sachen«, neckte er.

»Geheime Sachen«, brummte Rin Raelin unzufrieden. »Mein eigener Bruder hat Geheimnisse mit meiner Schwester. Das gefällt mir nicht.«

»Dir gefällt vieles nicht«, sagte Rin Verran und schmiss ein Kissen nahm ihm. »Das zum Beispiel!«

Sein Bruder hatte so einen Angriff nicht erwartet und wurde direkt vor die Brust getroffen. Ein gespielter Ausdruck von Wut machte sich auf seinem Gesicht breit und er schleuderte das Kissen zurück. »Pass nur auf!«

Grüner Habicht und Roter DracheWo Geschichten leben. Entdecke jetzt