Kapitel 104: Narben - Teil 1

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Der Jahrestag kam viel zu schnell. Rin Verran schlief auf der Pritsche, die zuvor Se Rafal gehört hatte, und als er an jenem Tag die Augen aufschlug, starrte er direkt in das grinsende Gesicht von Jin Gajin. Sein Herz setzte beinahe einen Schlag aus, aber er fasste sich gerade noch rechtzeitig.

»Es ist Zeit, Herr Rin«, sagte der Mann und schien Spaß daran zu haben, seine Anrede wie ›Herrin‹ klingen zu lassen. Er trat einen Schritt zurück, verbeugte sich und deutete einladend auf den Gang, der zur Haupthöhle führte. »Alle warten bereits auf Euch.«

Verdammte Scheiße. Rin Verran fluchte stumm, sobald Jin Gajin verschwunden war. Während er sich fertig machte und anzog, überlegte er, was er sagen sollte. Ein falsches Wort und sie würden ihn töten, weil er ihnen selbst nach so vielen Jahren nicht helfen konnte. Und wenn er log und sagte, dass er herausgefunden hatte, wo der Schlüssel war, würden sie darauf bestehen, ihn zu bekommen. Er war in einer ausweglosen Situation.

In beiden Fällen werden sie ihren ersten Plan aufgeben und zum zweiten übergehen. Der darin besteht, auf die Wahrheit zu verzichten und einfach alle zu töten, die sie für schuldig halten. Das kann ich nicht zulassen!

Er raufte sich ein letztes Mal die Haare, bevor er seine Gedanken ordnete und durch den Tunnel in die Haupthöhle ging. Sein Blick fiel sofort auf die Frau mit den orangenen Locken, die Mehn Wudu in seinen Armen hielt. Mehn Zairda. Sie schien nicht ganz bei sich zu sein und starrte ausdruckslos in die Leere. Wahrscheinlich hatte Se Laf ihr zuvor den Schleier des Vergessens gegeben und sie stand immer noch unter dem Einfluss der Droge. Rin Verran spürte einen schmerzhaften Knoten in seiner Brust. In Mehn Wudus Erzählung war Mehn Zairda so fröhlich und selbstbestimmt gewesen, ganz anders als jetzt.

Als Rin Verran ins Licht trat, richteten alle Blicke sich direkt auf ihn. Er konnte förmlich spüren, dass sie alle nach einer Antwort verlangten. Dia Nemesis durchbohrte ihn mit Augen, in denen nichts als Feindseligkeit zu erkennen war. Trotzdem erhob keiner von ihnen die Stimme. Auf einmal griffen alle sich gleichzeitig an den Gürtel und zückten ein Messer. Rin Verran zuckte reflexartig zusammen und trat einen Schritt zurück. Werden sie mich jetzt töten? Er öffnete gerade den Mund, um etwas zu sagen, als Jin Gajin ihm mit einem breiten Lächeln den Griff eines seiner Dolche hinhielt. Zögernd nahm Rin Verran ihn entgegen und sah hinüber zu Mehn Wudu und den anderen, die ihre Klingen bereits auf ihre Handfläche drückten. Er hatte zwar kein gutes Gefühl dabei, aber er tat es nach.

»Ein Drache hat zehn Klauen und einen Kopf«, sagte Mehn Wudu ernst und schaute in die Runde. »Wir schwören, Rache an den Gilden zu nehmen und allen die Wahrheit zu offenbaren. Die Toten werden nicht vergessen. Sie leben in unseren Herzen weiter und brennen als helle Flammen im Drachenfeuer. Ein Funke entfacht einen Brand. Ein Stein löst eine Lawine aus. Ein Blutstropfen wird zu einem Versprechen.«

Ohne zu zögern zog Mehn Wudu sich die Klinge seines Messers über die Handfläche, sodass rotes Blut aus dem Schnitt quoll. Dann ballte er die Hand zur Faust und streckte sie vor sich aus. Die anderen taten es ihm nach. Sogar Mehn Zairda, deren Griff so schwach war, dass ihr der Dolch fast aus der Hand fiel.

Also erneuern sie am Jahrestag ihren Schwur, begriff Rin Verran. Er spürte keinen Schmerz, als die Klinge in sein Fleisch schnitt. Sie war unglaublich scharf. Ein Blutstropfen sickerte zwischen seinen Fingern hindurch und fiel geräuschlos zu Boden. Halb fragend und halb abwartend sah er hinüber zu Mehn Wudu, der Mehn Zairda mit der freien Hand beruhigend über den Oberarm strich.

»Die Vergangenheit wird nicht vergessen«, beendete der Mann die kleine Zeremonie, nachdem ein Blutstropfen von jedem auf dem Steinboden gelandet war. Sogleich eilte Se Laf an Mehn Zairdas Seite und führte sie weg. Wahrscheinlich zurück zu ihrer abgelegenen Höhle.

Grüner Habicht und Roter DracheWo Geschichten leben. Entdecke jetzt