Wenige Wochen nach dem Brand des Krähen-Palastes, nachdem die Toten begraben und die meisten Verletzten sich erholt hatten, wurde ein Treffen in der Gämsen-Pagode eingerufen. Es sollte bestimmt werden, wie es jetzt weitergehen sollte. Alle fünf mächtigsten Gilden waren entweder fast vollständig ausgelöscht oder hatten ihren Wohnsitz und einen Teil ihrer Anhänger verloren. Hinzu kam, dass Se Laf weiterhin unauffindbar blieb. Fah Zaromo hatte zwar den gesamten Silbermistel-Wald und auch die Umgebung durchsucht, sie jedoch nicht gefunden. Und auch in dem Tunnelsystem, in dem die Drachenklauen ihren Unterschlupf gehabt hatten, war sie nicht gewesen.
Schweigend beobachtete Rin Verran, wie die Gilden-Anführer, ihre wichtigsten Anhänger und etwas mehr als fünfzig Krieger der Sonne sich in der Versammlungshalle der Gämsen-Pagode zusammenfanden. Am hintersten Tisch saßen bereits Val Zirro und Meister Jhe. Ersterer hatte sich mehr oder weniger von seiner Gefangenschaft erholt, aber sein Gesicht wirkte noch immer eingefallen und an seinem Stuhl lehnte der Gehstock, der ihn nun auf jedem Weg begleitete. Meister Jhe neben ihm starrte mit finster zusammengezogenen Augenbrauen auf die Tür, die jetzt von einem Diener geschlossen wurde. Anscheinend waren alle, die erwartet wurden, bereits eingetroffen.
»Zuerst einmal möchte ich alle Anwesenden begrüßen«, erhob Val Zirro die Stimme. Er musste nicht laut sprechen, denn in der Versammlungshalle war es trotz der vielen Menschen totenstill. Was sich im Krähen-Palast offenbart hatte und was danach passiert war, geisterte immer noch im Hinterkopf eines jeden herum. »Auf diesem Treffen wird die Zukunft unserer Gilden und unserer Territorien entschieden werden. Es sollen alle Schulden beglichen, alle Entschuldigungen ausgesprochen und alle Strafen erhalten werden, die nötig sind, um einen Frieden zu schaffen, den die Drachenklauen schon mehr als ein Mal zerstört haben.«
»Wer sich dem auf irgendeine Weise entgegenstellt, hat in dieser Halle nichts zu suchen«, fügte Meister Jhe kalt hinzu. Sein einschüchternder Blick schweifte über alle Anwesenden, blieb an einigen länger hängen als an anderen, und kehrte schließlich zu dem Stück Pergament zurück, das vor ihm auf dem Tisch lag. »Ich glaube, uns allen ist bewusst, dass es in dieser Angelegenheit mehr als einen Schuldigen gibt. Jeder hat mit seinen Taten zu dem einen oder anderen beigetragen. Und über jeden wird nach dem Kodex und der Gerechtigkeit gerichtet werden.«
»Ghan Shedor«, rief Val Zirro den ersten auf, der sich würde verantworten müssen. Niemandem entging, dass der Meister seinen Titel als Gilden-Anführer wegließ.
Ghan Shedor erhob sich von seinem Platz und marschierte in die Mitte des Ganges, wo er stehen blieb und zu den zwei Meistern hoch sah. Er trug zwar die dunkelgraue Kleidung seiner Gilde, doch sein Herzstück hatte er abgelegt. Steif verbeugte er sich und wartete auf die Fragen, die kommen würden.
»Euer rachesüchtiges Handeln hat den Krieg ausgelöst, der alle Territorien ins Chaos gestürzt hat«, las Val Zirro von einer Schriftrolle vor sich ab. Rin Verran wusste, dass dort die Aussagen von mehreren hundert Erzwächtern, Anhängern verschiedener Gilden und einfachen Leuten vom Land festgehalten waren. Er selbst hatte ebenfalls erzählen müssen, was er wusste. Die Liste von Ghan Shedors Vergehen war wohl eine der längsten, aber Rin Verran war sich nicht sicher, ob seine eigene vielleicht sogar noch länger war. Ihm war klar, dass insgeheim fast alle nur darauf warteten, dass der Grüne Habicht aufgerufen wurde. Mit halbem Ohr hörte er zu, wie Val Zirro alles vorlas. Wirklich alles. Ghan Shedors Taten und Befehle, aber auch die Gründe dafür, warum er das alles getan hatte. Ein Krieg, angestachelt von den Drachenklauen. Dass in Wirklichkeit ein rotes Band an einem schwarzen Falken der Auslöser gewesen war, hatte Rin Verran jedoch für sich behalten. Offiziell hieß es, Mahr Yuzhu hätte nur behauptet, dass Mahr Hefay ihn geschickt hätte, damit der ganze Konflikt entbrannte.
»Was habt Ihr dazu zu sagen?«, fragte Val Zirro abschließend.
»Ich wurde schon genug bestraft, Meister«, sagte Ghan Shedor, senkte den Kopf aber nicht, sondern schaute ihm genau in die Augen. »Meine Familie ist bis auf meinen jüngsten Bruder tot. Der Wohnsitz meiner Gilde ist zerstört. Genauso wie mein Ruf. Ich habe nichts mehr.«
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Grüner Habicht und Roter Drache
MaceraBis zu seinem fünfzehnten Lebensjahr wächst Rin Verran mehr oder weniger behütet in seinem Zuhause, dem Phönix-Hof, auf. Obwohl er nur der uneheliche Sohn des Gilden-Anführers ist, träumt er davon, ein berühmter Erzwächter und Krieger zu werden. In...