Kapitel 107: Wut - Teil 1

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Es kam Rin Verran vor, als würde sich seine Reise mit Se Laf vom Rotapfel-Berg bis zum Lager der Drachenklauen wiederholen. Sie redete genauso wenig wie immer, setzte ihren Schleier wie immer nie ab und hielt sich wie immer abseits der Wege und Straßen. Der einzige Unterschied war, dass sie jetzt nicht am Schwarzgras-Berg entlang nach Süden gingen, sondern direkt nach Westen, wo sie in der Nacht zum Ufer des Fernen Stroms hinab stiegen, um an der Steilküste des Windlilien-Hangs bis zur Gämsen-Pagode zu klettern. Se Laf beschwerte sich zwar nicht, aber ihr war anzusehen, dass dieses Vorankommen ihr überhaupt nicht gefiel, und sie musste mehrere Ruhepausen einlegen.

»Was passiert jetzt?«, fragte sie, nachdem sie endlich auf der Sandbank unter der Brücke angekommen waren.

»Wir werden ins Wasser steigen und durch einen Tunnel bis in die Gämsen-Pagode schwimmen«, erklärte Rin Verran.

Se Laf bewegte sich nicht von der Stelle, doch er war sich sicher, dass er ein durch und durch geschocktes Gesicht gesehen hätte, wenn der Schleier nicht gewesen wäre.

»Aber wir müssen zuerst sowieso warten, bis uns ein Seil runtergeworfen wird, damit ich mein Schwert und du deinen Beutel daran festbinden kannst.« Er deutete auf den Beutel, der an ihrem Gürtel hing. Er war prall mit verschiedenen Zutaten gefüllt, die sie vermutlich für die Herstellung des Atems des Drachen brauchte. Bestimmt war auch der Schleier des Vergessens dabei. Rin Verran fiel ein, dass er eigentlich auch das Wasser der Wahrheit mit dem Seil in Sicherheit bringen sollte, aber Se Laf würde sehen, dass er nicht nur sein Schwert daran festband.

Es dauerte fast einen Tag, bis Rin Verran endlich einen Schattenriss vor dem bewölkten Himmel sah, der von der Mauer aus zu ihnen nach unten blickte. Er winkte mit den Armen und hoffte, dass der Kellner aus Naremas Schloss seine Bitte auch wirklich erfüllt und den Brief an die Krieger der Sonne weitergegeben hatte. Ansonsten würde gleich womöglich ein Pfeil auf ihn zu fliegen. Doch er schien Glück zu haben. Ein Seil wurde zu ihnen runter geworfen, das er flink um Habichtfeder herumwickelte und festband. Se Laf knotete ihren Beutel ebenfalls fest. Dann wurde das Seil hochgezogen.

»Ist der Tunnel lang?«, fragte die Frau unsicher, als Rin Verran ohne zu zögern in Richtung des Wassers ging, das wild um die Felsen herum rauschte.

»Ja«, antwortete er ehrlich. »Aber du darfst nicht aufgeben und musst einfach immer weiter schwimmen.« Er hielt kurz inne. »Es wäre besser, wenn du deinen Schleier abnimmst.«

»Nein.« Ihre Stimme war hart.

Rin Verran versuchte gar nicht erst, mit ihr zu diskutieren. Vorsichtig setzte er einen Fuß auf den ersten Felsen, der aus dem Wasser ragte. Fast wäre er ausgerutscht, konnte sich aber gerade noch rechtzeitig fangen. Suchend ließ er seinen Blick über den wilden Fluss schweifen, bis er die richtige Stelle fand. Er atmete tief durch, hielt sich mit den Händen an den Kanten eines Steins fest und stieg vollends in den Knochenbrecher. Die Strömung riss ihn beinahe mit sich und für einen kurzen Moment fürchtete er, wieder beinahe zu ertrinken, doch dann fand er seinen Mut. Er atmete tief ein und tauchte unter. Seine Hände fanden den ersten Griff, an dem er sich festhielt als würde sein Leben davon abhängen. Eigentlich tat es das auch. Fast hätte er erleichtert ausgeatmet, als er seinen Körper aus dem Sog des Flusses in den ruhigeren Tunnel zog. Er sah sich nicht nach Se Laf um – er hätte ohnehin nichts gesehen und Zeit verlieren würde er auch –, sondern schwamm direkt weiter.

Dieses Mal kam der Tunnel ihm nicht so lang und unheimlich vor wie beim ersten Mal. Vielleicht lag es daran, dass er ihn jetzt schon kannte und sicher wusste, dass es irgendwo ein Ende gab. Als die Decke über ihm verschwand und er einige Sonnenstrahlen sah, die wie helle Speere das Wasser vor ihm durchdrangen, stieß er sich mit den Füßen ab und schoss nach oben. Erleichtert schnappte er nach Luft, sobald sein Kopf die Oberfläche durchbrach. Er musste mehrmals blinzeln, bevor er begriff, in welcher Richtung sich das Ufer befand, an dem er aus dem Teich klettern konnte.

Grüner Habicht und Roter DracheWo Geschichten leben. Entdecke jetzt