Kapitel 64: Unschuld - Teil 5

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Zwei Monate später im Rothirsch-Turm der Mahr-Gilde.

»Wirf bitte noch etwas Holz in den Kamin«, bat Mahr Ledja, während sie sich in ihrem Stuhl zurücklehnte und versuchte, einhändig die Seite des Buches umzublättern, in dem sie gerade las. Gleichzeitig bewegte sie mit der anderen Hand Mahr Xeros Wiege hin und her. Das war eine der wenigen Arten wie er einschlafen konnte und sie wusste wirklich nicht, wie er es machte, aber sobald sie aufhörte, würde er es merken und wieder aufwachen. Wenn sie Pech hatte, würde er auch anfangen zu schreien.

Aus dem Augenwinkel beobachtete sie, wie Wen Erda gehorsam ein neues Holzscheit nahm und es in den Kamin warf. Dann nahm sie den Schürhaken und wühlte etwas in der Glut herum, wobei es laut knisterte und Funken sprühten. Wen Erda war schon seit sie klein war ihre Dienerin gewesen. Ein treuer Geist. Sie war ein Waisenkind. Mahr Ledjas Vater hatte sie einst neben einem ausgeraubten Wagen auf der Straße gefunden, wo sie sich noch an die Leiche ihrer Mutter geklammert hatte. Er hatte Mitleid mit ihr gehabt und sie zur Schwalben-Terrasse mitgenommen, wo sie sich sofort mit Mahr Ledja angefreundet hatte. Mit zwölf Jahren war sie dann auch offiziell zu ihrer Dienerin ernannt worden.

»Habt Ihr gehört, was in der Gämsen-Pagode passiert ist?«, fragte Wen Erda, nachdem sie den Schürhaken wieder weg gestellt hatte. Sie bestand darauf, Mahr Ledja formell anzusprechen, obwohl das eigentlich gar nicht nötig war. Sie kannten sich schon wirklich lange und gut.

»Du meinst die Geschichte mit Meister Jhe?« Mahr Ledja wiegte den Kopf hin und her. »Oh ja. Er wollte sich vom obersten Stockwerk der Gämsen-Pagode stürzen, nicht wahr?«

Wen Erda nickte. »Ich frage mich, warum er das tun wollte. Er ist doch so erfolgreich und gilt als einer der besten Schwertkämpfer.«

Mahr Ledja zuckte gleichgültig mit den Schultern. »Vielleicht ist etwas in seinem Leben passiert, was er nicht verkraften konnte. Wir werden es wahrscheinlich nie erfahren. Ich halte sowieso nicht viel von der Gämsen-Pagode.«

»Es ist aber schon beeindruckend, dass Meister Jhe als einer der wenigen zwei Herzstücke hat«, meinte Wen Erda und fügte nach einer kurzen Pause hinzu: »Ich wünschte, ich hätte auch zur Val-Gilde gehen können, um mir dann im dritten Jahr ein Herzstück zu erschaffen.«

»So?« Mahr Ledja legte das Buch beiseite und hob fragend eine Augenbraue. »Welches Herzstück hättest du dir denn erschaffen?«

»Ähm.« Wen Erda errötete etwas. »Ein Wurfmesser? Vermutlich?«

»So eines wie Hefay es hat?«

»Ja.«

Mahr Ledja lachte auf. »Das möchte ich sehen! Wenn du möchtest, kann ich dir eines besorgen.«

»Nein, nein, ich...«

Wen Erda verstummte, als es plötzlich an der Tür klopfte. Auf Mahr Ledjas »Herein!« hin trat ein Anhänger ihrer Gilde ein. Es war der Mann, der sich um den Taubenschlag im obersten Geschoss des Rothirsch-Turms kümmerte. Er verneigte sich respektvoll vor ihr und holte dann einen Brief hinter seinem Rücken hervor.

»Eine Nachricht von Gilden-Anführerin Ghan an Euch, Frau Mahr«, sagte er und reichte Mahr Ledja den Brief. Er war immer noch mit dem Zeichen der Ghan-Gilde versiegelt. Ausnahmsweise haben weder Mahr Chir noch Mahr Bagata reingeschaut, dachte Mahr Ledja. Es nervte sie allmählich, dass die Eltern von Mahr Hefay ihr immer noch nicht vollständig trauten. Immerhin hatte sie es geschafft, deren Sohn so zu verführen – oder einfach nur zu beeindrucken, was wohl eher zutraf –, dass er sie unbedingt heiraten wollte und dafür sogar Geld geboten hatte.

»Danke«, sagte sie an den Mann gewandt. »Du kannst wieder gehen.«

»Von Gilden-Anführerin Ghan?«, fragte Wen Erda neugierig, nachdem die Tür wieder verschlossen war. »Was schreibt sie?«

Grüner Habicht und Roter DracheWo Geschichten leben. Entdecke jetzt