Kapitel 5: Schriften - Teil 2

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Bao Jenko war einer der Anhänger der Rin-Gilde, der zusammen mit Rin Verran und Rin Raelin in der Gämsen-Pagode angekommen war. Seine Eltern waren keine Erzwächter, sondern Diener gewesen, aber nachdem sie vor zwei Jahren gestorben waren, hatte man ihm erlaubt, sich selbst zu einem Erzwächter ausbilden zu lassen. Rin Verran und Rin Raelin hatten zuvor zwar nicht viel mit ihm zu tun gehabt, aber in den nächsten Tagen setzte er sich oft beim Essen mit ihnen an einen Tisch und schon bald wurden Gespräche mit ihm zu einer Gewohnheit. Bao Jenko war erstaunlich motiviert und hatte schon in den ersten zwanzig Tagen die Hälfte der Hefte, Bücher und Schriften durchgelesen, die in diesem Jahr Pflicht waren. Da er auch ein ausgezeichnetes Gedächtnis besaß und beinahe alles auswendig lernte, wandten sich die anderen Schüler oft an ihn, wenn sie Schwierigkeiten beim Verständnis von irgendwelchen Sachen hatten. Auf diese Weise kam er mit vielen in Kontakt und war sozusagen die unfreiwillige Gerüchteküche.

»Habt ihr schon gehört?«, flüsterte er Rin Verran und Rin Raelin auch heute zu. Der Unterricht war schon vorbei und nach dem Mittagessen waren sie auf die Wiese im Garten gegangen. Vorerst nur, um die anderen bei einem Ballspiel zu beobachten und später vielleicht einzusteigen.

»Was gehört?«, fragte Rin Raelin beiläufig, war jedoch mehr an dem Spiel interessiert als an dem untersetzten Jungen neben ihm.

»Sagt mir nicht, dass ihr das noch nicht gehört habt!«

»Was denn nicht gehört?«

Bao Jenko beugte sich verschwörerisch vor. »Angeblich steht Meister Erjan auf Meisterin Zha!« Er kicherte. »Gestern hat jemand gesehen, wie er mit einem Strauß Blumen aus dem Garten gekommen ist und die Gämsen-Pagode betreten hat. Erst ist alles still gewesen, aber dann ist das Licht im Zimmer von Meisterin Zha angegangen.«

Rin Raelin schnalzte nur mit der Zunge, doch Rin Verran schaute den Jungen erschrocken an. »Pass auf, dass das niemand hört! Sonst könnten die beiden gehörig Ärger bekommen! Ist Zha Denja nicht sogar deine Meisterin?«

Bao Jenko kicherte wieder. »Es ist sowieso schon zu spät. Mittlerweile weiß fast das ganze Sturmheim und das halbe Windhaus Bescheid.«

Rin Verran riss erschrocken die Augen auf. Den Mitgliedern der Val-Gilde war es verboten, eine Geliebte oder einen Geliebten zu haben geschweige denn zu heiraten. Es wurde gesagt, dass sie nicht von so tiefen Gefühlen wie Liebe von ihrer geistigen Leistung abgelenkt werden durften. Aus diesem Grund waren die Anführer der Val-Gilde auch nie untereinander verwandt. Wenn einer von ihnen zu alt wurde, adoptierte er einen seiner Schüler, der sowohl seinen Nachnamen als auch sein Amt erbte, sobald dieser gestorben war. Val Zirro und Val Erjan waren also auch nicht blutsverwandt, sondern vom vorherigen Anführer adoptiert worden. Dass Meister Erjan nun anscheinend in Meisterin Zha verliebt war, würde sein Bruder also nicht einfach so hinnehmen.

»Und was passiert jetzt?«, wollte Rin Verran wissen, immer noch erschrocken. »Hat Val Zirro es schon mitbekommen? Was wird er machen?«

Bao Jenko winkte ihm zu, damit er sich näher zu ihm hinüber beugte, was er auch tat. »Es gibt Gerüchte darüber, dass er Meisterin Zha abziehen und jemand anderen als Ersatz rufen wird. Das ist schonmal passiert, aber aus anderen Gründen. Jedenfalls wird er bestimmt nicht seinen eigenen Bruder dazu bringen, die Gämsen-Pagode zu verlassen.«

Rin Verran spürte, wie sein Herz einen Schlag aussetzte. »Und was passiert dann mit ihren Schülern?« Er machte sich keine Sorgen um Mahr Xero und seine ganzen Anhänger. Er bangte um das Mädchen mit dem grünen Stoffband, das ebenfalls eine Schülerin von Meisterin Zha war. Er hatte sie seit mehreren Tagen nicht mehr gesehen und sich auch dazu gezwungen, keine Ausschau nach ihr zu halten. Besser, ich bleibe erstmal weg von ihr. Trotzdem wollte er nicht, dass sie ihre Meisterin womöglich verlor.

Grüner Habicht und Roter DracheWo Geschichten leben. Entdecke jetzt