Rin Verran hatte das Gefühl, dass die Luft im Zelt aus Frost bestand, den man aus irgendeinem Grund atmen konnte. Meister Jhe saß auf einem Hocker weiter hinten, den Oberkörper leicht nach vorne gebeugt. Die Unterarme ruhten auf den Oberschenkeln und sein Blick war auf den schmutzigen Boden gerichtet. Als Rin Verran eintrat, hob er nicht mal den Kopf.
»Setz dich«, befahl er mit scharfer Stimme.
Ohne seinen Meister aus den Augen zu lassen, setzte Rin Verran sich auf den anderen Hocker, der in der Mitte des Zeltes aufgestellt worden war. Es kam ihm vor, als wäre er in der Versammlungshalle einer der großen Gilden. Mit dem einzigen Unterschied, dass vor ihm kein Gilden-Anführer saß und dass der Raum nicht so groß war. Seine Nervosität stieg, als Meister Jhe sich nach fünf Minuten immer noch nicht regte oder etwas sagte. Schließlich riss er sich zusammen und öffnete selbst den Mund. Im selben Moment erklang ein scharfes Zischen, etwas blitzte auf und die Spitze von Weißer Habicht war auf seine Kehle gerichtet. Das alles geschah innerhalb von nur wenigen Sekunden.
»Wenn auch nur eine Lüge aus deinem Mund kommt, bist du tot«, sagte Meister Jhe kalt.
»Ist Reva bei euch in Sicherheit?«, fragte Rin Verran, den Blick auf die Schwertspitze fixiert.
»So ist also ihr Name.« Meister Jhe rührte sich nicht. »Was ist mit ihren Eltern passiert? Hast du sie getötet?«
»Nein!« Rin Verran hielt sich nur im letzten Moment davon ab, aufzuspringen. »Jadna war meine Schwester!«
»Wer dann?«
»Ich...« ›Weiß es nicht‹ hätte er beinahe gesagt, doch Weißer Habicht erinnerte ihn daran, dass er nicht lügen durfte.
Meister Jhe schien zu merken, dass etwas nicht stimmte. »Nun?«, fragte er ungeduldig.
»Die Drachenklauen«, presste Rin Verran heraus. »Sie wollen, dass ich mich ihnen anschließe. Als ich abgelehnt habe, haben sie jemanden losgeschickt, um Jadna zu töten.« Er senkte den Kopf. »Ich habe es nicht mehr geschafft, sie zu warnen.«
Stille.
Meister Jhe sah ihn abschätzend an, das Gesicht finsterer als je zuvor.
Was denkt er?, fragte Rin Verran sich. Glaubt er mir? Oder ist er sich nicht sicher, was er davon halten soll? Wenigstens hat er erkannt, dass ich nicht lüge, oder? Sonst wäre ich schon tot.
»Weiter«, sagte Meister Jhe auf einmal.
Weiter? »Die Drachenklaue, die dort war, hat Reva offenbar nicht gefunden«, fuhr er stockend fort. »Sie hat sich versteckt. Ich weiß nicht, ob... sie vielleicht alles gesehen hat.« Er ballte die Fäuste. Die Schuld fraß ihn von innen heraus auf, aber er zwang sich dazu, weiter zu reden. »Später kamen einige Erzwächter der Ghan-Gilde und haben die Leichen mitgenommen. Ich weiß nicht, warum sie überhaupt kamen, aber es schien etwas Wichtiges zu sein.«
Er sah überrascht auf, als Meister Jhe Weißer Habicht zurückzog und in die Scheide steckte. Seine Augenbrauen waren so stark zusammengezogen, dass seine Stirn nur aus Falten bestand. »Die Gämsen-Pagode ist der einzige sichere Ort für Reva«, sagte er mit einer Stimme, die etwas weniger kalt klang. »Für die nächsten Monate jedenfalls. Du hast gut daran getan, sie hierher zu bringen. Das ändert allerdings nichts an dem, was du getan hast, Rin Verran.« Meister Jhes Blick bohrte sich förmlich in seine Augen. »Du hast alles vergessen, was ich dir beigebracht habe. Du hast deine Familie verraten und zugelassen, dass deine Gilde zerstört wird. Du hast den Angriff auf den Forellen-Pavillon angeführt, als wäre es eine Ehre für dich, deine zweite Heimat, das Zuhause deiner Ehefrau, zu zerstören. Zuletzt hast du die Gämsen-Pagode angegriffen und deinen Tod vorgetäuscht, um deiner gerechten Strafe zu entgehen. Ich möchte gar nicht wissen, wie du das getan hast. Ich möchte nur wissen, warum ich dich nicht der Mordlust der Rebellen draußen überlassen sollte.«
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Grüner Habicht und Roter Drache
AdventureBis zu seinem fünfzehnten Lebensjahr wächst Rin Verran mehr oder weniger behütet in seinem Zuhause, dem Phönix-Hof, auf. Obwohl er nur der uneheliche Sohn des Gilden-Anführers ist, träumt er davon, ein berühmter Erzwächter und Krieger zu werden. In...