Gedankenverloren schaute Rin Verran auf das dunkle Wasser des Sees, das sich bei jedem Windstoß leicht kräuselte und so die Spiegelung des Bootes verzerrte, an dessen Reling er stand. Es war nicht sehr groß. Gerade mal fünf Leute passten darauf, aber er war nur mit Rin Veyvey, ihrer Dienerin Lai Vatani und einem weiteren Anhänger der Dul-Gilde darauf, der das Gefährt vorwärts bewegte. Sie waren schnell unterwegs, was vor allem damit zu tun hatte, dass sie die Strömung des Flusses hinter sich hatten, der in den See floss. Während die Rin-Gilde ihn den Fernen Strom und die Val-Gilde ihn den Knochenbrecher nannte, hieß er für die Dul-Gilde einfach nur Kieselsteinfluss, denn sein Grund war mit kleinen, grauen Steinen bedeckt. Der Stillwasser-See hingegen war so tief, dass man den Boden nicht sehen konnte. Insgeheim fragte Rin Verran sich, wie viele Menschen hier wohl schon ertrunken waren.
»Da!«, rief Rin Veyvey auf einmal, hakte sich bei ihm unter und deutete aufgeregt auf eine der dunklen Silhouetten der Inseln, zu denen sie aufgebrochen waren. Die letzten Wochen und Monate war sie erstaunlich enthusiastisch und freundlich ihm gegenüber gewesen, aber wahrscheinlich lag das daran, dass sie den anderen eine glückliche Ehe vorspielen wollte. Jetzt dürfte sie sich aus demselben Grund so benehmen. Immerhin wurden sie von Lai Vatani und dem Mann beobachtet, der das Boot lenkte.
»Welche der Inseln?«, fragte Rin Verran und grinste leicht, um bei ihrem Theater mitzuspielen.
»Der Anfang wird auf der größten sein«, erklärte Rin Veyvey. »Die in der Mitte. Da werden auch der Gesang-, Musik- und Kunstwettbewerb und der Großteil der anderen stattfinden. Die Jagd wird aber auf allen Inseln sein.«
»Wie sollen die Teilnehmer denn von einer Insel zur anderen kommen?«
»Vater hat an den Ufern Boote bereitgestellt«, meinte Rin Veyvey. »So wird es gleichzeitig auch spannender! Die Boote dort sind anders als unseres. Man kann sie nicht alleine lenken, sondern nur zu zweit und die Strömung zwischen den Inseln ist auch nicht so stark. Man braucht also jemanden, der rudert, und jemanden, der steuert. Die Teilnehmer müssen sich mindestens zu zweit zusammenschließen, um auf eine andere Insel zu kommen. Und ich verrate dir ein Geheimnis.« Sie beugte sich dicht zu ihm rüber und flüsterte ihm zischend ins Ohr: »Wenn du auch nur versuchst, die Dul-Gilde absichtlich schlecht dastehen zu lassen, werde ich das Sofa rausbringen lassen und du schläfst auf dem Boden.«
Rin Verrans Lippen zuckten. Etwas anderes hatte er auch gar nicht erwartet.
»Jetzt weißt du also Bescheid!«, säuselte Rin Veyvey fröhlich und sah zu dem Mann hinten im Boot. »Kannst du nicht etwas schneller fahren? Meine Schwester ist schon fast da!« Sie deutete auf ein Gefährt, das vor ihnen bereits in der Nähe der mittleren Insel trieb, auf der der Zatos – den dieses Mal die Dul-Gilde veranstaltete – seinen Anfang nehmen würde.
»Ich entschuldige mich vielmals, Frau Rin, aber ich bin nur für die Richtung und nicht für die Geschwindigkeit zuständig«, kam die wenig freundliche Antwort.
Rin Veyvey rümpfte unzufrieden die Nase, sagte aber nichts weiter und wartete stattdessen schweigend, bis auch sie das Ufer erreicht hatten. Das Boot wackelte kurz, als es mit der Seite gegen den Steg stieß. Rin Verran sog scharf die Luft ein, als Rin Veyvey ihre lange, rot lackierten Fingernägel in seinen Oberarm grub, um nicht hinzufallen. Er zwang sich zu einem freundlichen Lächeln, sprang auf den Steg und hielt ihr die Hand hin, um ihr beim Aussteigen zu helfen. Sie schlug seine Hand weg.
»Ich schaffe das auch so!«
Meinetwegen. Rin Verran verschränkte die Arme vor der Brust und beobachtete leicht belustigt, wie sie sich mit ihrem prächtigen Kleid abmühte, bis Lai Vatani sich endlich erbarmte und ihr half. Schwer atmend stellte Rin Veyvey sich vor ihm auf und funkelte ihn aus blaugrünen Augen verärgert an. Als würde er es nicht bemerken, wandte er sich ab und ging den Steg entlang ins Innere der Insel. Sie folgte ihm mit hoch erhobenem Kopf und weiten Schritten.
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Grüner Habicht und Roter Drache
AdventureBis zu seinem fünfzehnten Lebensjahr wächst Rin Verran mehr oder weniger behütet in seinem Zuhause, dem Phönix-Hof, auf. Obwohl er nur der uneheliche Sohn des Gilden-Anführers ist, träumt er davon, ein berühmter Erzwächter und Krieger zu werden. In...