Kapitel 19: Briefe - Teil 3

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Da Rin Raelin angekündigt hatte, zu einem Dorf auf der anderen Seite des Fernen Stroms zu gehen, hatten sie sich etwas mehr Zeit erkauft, sodass sie zum Krähen-Palast reisen konnten ohne dass ihr Vater sich fragte, wo sie so lange blieben. Sie waren wieder ohne Pferde aufgebrochen. Rin Raelin gab es zwar nicht offen zu und dachte sich Ausreden aus, aber Rin Verran wusste genau, dass er immer noch Angst vor dem Reiten hatte.

Es war ein kühler Abend, als sie am Rand des Silbermistel-Waldes ankamen, in dem der Krähen-Palast sich befand. Die Blätter der Bäume hatten schon eine leicht gelbliche Färbung angenommen. Der Herbst war eingebrochen, was wohl eher zu ihrem Vorteil war. Wegen der Kälte und dem eisigen Wind waren weniger Leute auf den Straßen unterwegs. Bisher hatten sie auch Glück gehabt und waren niemandem begegnet, der sie kannte und an Rin Baleron verraten könnte. Andererseits hätten sie auch einfach behaupten können, gerade auf dem Weg zu einem anderen Dorf zu sein, um die Feuerwächter dort zu unterstützen. Niemand würde sich die Mühe machen, das zu überprüfen. Trotzdem verließen sie jetzt die Straße, um den Silbermistel-Wald an einer abseits gelegenen Stelle zu betreten. Immerhin waren sie nun sehr nah am Krähen-Palast und wenn die Sache mit dem Brief bekannt wurde, könnte es sein, dass sich zufällig jemand daran erinnerte, sie zu einer ähnlichen Zeit hier gesehen zu haben.

»Gehen wir«, sagte Rin Raelin entschlossen und ging voraus, tauchte in die Schatten der Bäume ein. Je näher sie ihrem Ziel gekommen waren, desto grimmiger war er geworden. Besonders als sie den Rotkiefer-Hain passiert hatten, hatte seine Laune sich drastisch verschlechtert. Die Erinnerung an den verlorenen Kampf und seine Verletzung waren immer noch frisch.

Rin Verran folgte ihm wortlos. Mehrmals hatte er überlegt, ob es wirklich eine gute Idee war, Ghan Idos so anzuschwärzen. Andererseits stimmte es ja, was sie in diesem Brief geschrieben hatten, und das zukünftige Leben von Rin Jadna stand auch auf dem Spiel. Tu es für sie. Tu es für ihre Zukunft.

Bald war die Sonne vollständig untergegangen. Jetzt mussten sie sich an den schwachen Lichtern parallel zu ihrem eingeschlagenen Weg orientieren, die die offizielle Straße zum Krähen-Palast ausleuchteten. Den Geräuschen nach zu urteilen waren selbst zu dieser Zeit noch einige Leute unterwegs, wenn auch nur vier oder fünf. Rin Verran versuchte, einem der Gespräche zu lauschen, aber sie waren zu weit weg und näher konnten sie nicht gehen, weil man sie sonst bemerken könnte.

»Da«, flüsterte Rin Raelin ihm auf einmal zu und zeigte nach vorne.

In einiger Entfernung war zwischen den Bäumen eine hohe Mauer auszumachen, hinter der sich die Dächer des Krähen-Palastes erhoben. Sie schien unbewacht zu sein, ähnlich wie bei der Gämsen-Pagode. Man zählte darauf, dass niemand an ihr hochklettern konnte. Allerdings hatte der Erbauer offensichtlich nicht daran gedacht, dass die Mauer von Bäumen umgeben war, die man sehr wohl erklimmen konnte. Das Problem würde nur sein, wieder nach draußen zu kommen, aber darum würden sie sich später kümmern. Besser gesagt Rin Verran.

»Nimm den Brief«, sagte Rin Raelin und hielt ihm das zusammengefaltete Stück Papier hin. »Ich geh da nicht hoch.«

»Angst?«, neckte Rin Verran ihn grinsend, um die Stimmung aufzulockern, was jedoch nicht so recht gelingen wollte.

»Wenn wir zu zweit gehen, kann man uns leichter entdecken«, sagte sein Bruder ohne ihn anzusehen. »Jetzt geh schon. Ich warte hier.«

Rin Verran nickte und betrachtete nachdenklich die Bäume, während er sich der Mauer näherte. Auf der Suche nach einem, der geeignet war, um ihn hochzuklettern und von einem der Äste aus auf die Mauer zu springen. Er stellte fest, dass der Erbauer sich anscheinend doch Gedanken über die Schwäche des Bauwerks gemacht hatte. Und wenn nicht er, dann einer der Anhänger der Ghan-Gilde. Die Äste der umliegenden Bäume waren gerade so abgeschnitten und gestutzt, dass es praktisch unmöglich war, auf diesem Weg über die Mauer zu kommen. Leise fluchend sah Rin Verran sich dazu gezwungen, zu seinem Bruder zurückzukehren.

Grüner Habicht und Roter DracheWo Geschichten leben. Entdecke jetzt