Kapitel 88: Trümmer - Teil 3

97 14 9
                                    

Als Rin Verran sich sicher war, dass Fah Zaromo und seine vier Begleiter weit weg waren, raffte er sich zusammen und kletterte den Baum wieder runter. Sein ganzer Körper fühlte sich an wie ein einziger schwerer Klotz. Die Müdigkeit und Erschöpfung war so stark, dass er sich nicht mal hatte dazu zwingen können, dem Gespräch der fünf Erzwächter zu lauschen. Sie waren sowieso zu weit weg gewesen. Er kniff sich in die Hand, um etwas wacher zu werden, und kniete sich neben dem Bau zwischen den Wurzeln in den Schnee.

»Du kannst rauskommen, Reva«, sagte er und sah kurz darauf das Mädchen nach draußen krabbeln. Sie schaute ihn mit großen Augen an, bevor sie ihm langsam den Stoffhasen entgegen streckte.

»Mit Hasi ist es wärmer«, sagte sie. »Lass mich nicht allein.«

Sehe ich wirklich so schlimm aus?, fragte Rin Verran sich. Natürlich. Meine Hände... Wahrscheinlich auch mein Gesicht. Er drückte den Stoffhasen zurück an ihre Brust. »Ich lass dich nicht allein. Ich muss nur etwas schlafen.«

»Aber Mama und Papa...« Ghan Reva brach ab, während ihr eine Träne die Wange hinab lief.

»Keine Sorge.« Er strich ihr über die hellbraunen Haare, die sie von ihrer Mutter geerbt hatte. »Ich wache wieder auf. Komm, wir gehen am besten zuerst ins Haus.«

Mit Mühe stand er auf, nahm die kleine Hand seiner Nichte und torkelte mit ihr zusammen zwischen den Büschen hindurch in den Vorgarten. Er warf nur einen kurzen Blick auf Mondfleck, der schnaubte und hinter ihm her schritt. Warum hatten die Erzwächter ihn zurückgelassen? Rin Verran schüttelte den Kopf und ließ den treuen Hengst im Vorgarten zurück. In der Hütte sank er auf das erstbeste, was sich ihm anbot – eine hölzerne Bank.

»Reva«, sagte er, schon mit geschlossenen Augen, »hol dir Decken und halte dich warm. Und Mondfleck... Komm ihm nicht zu nah.«

Er hörte nicht mehr, ob sie etwas antwortete. Fast sofort sank er in einen tiefen, traumlosen Schlaf.

Als Rin Verran aufwachte, ging die Sonne gerade auf. Er hatte fast einen ganzen Tag geschlafen. Über seinem Körper waren mehrere Decken ausgebreitet, die wahrscheinlich Ghan Reva versucht hatte über ihn zu werfen. Es hatte nur zur Hälfte geklappt. Das Mädchen selbst lag zusammengerollt direkt neben der Holzbank. Sie schlief noch, aber die Augen unter ihren Lidern bewegten sich heftig hin und her und eine nasse Tränenspur zog sich über ihre Wange.

Vorsichtig setzte Rin Verran sich auf, schlug die Decken zur Seite und schüttelte Ghan Reva an der Schulter, bis sie aufwachte. Für einen kurzen Moment wirkte sie verwirrt, bevor sich doch noch ein strahlendes Lächeln auf ihrem Gesicht ausbreitete. Sie umklammerte eines seiner Beine und wollte nicht mehr loslassen.

»Warum hast du dir nicht selbst die Decken geholt?«, fragte er seufzend. Sie hat auch noch auf dem Boden geschlafen. Was, wenn sie sich erkältet? Er erinnerte sich an die Sorge, die Rin Veyvey einst hatte, als Rin Kahna zu lange im Schnee gespielt und Schnupfen bekommen hatte. Für kleine Kinder konnte das anscheinend gefährlich werden.

»Dir war kalt«, murmelte Ghan Reva. »So wie Mama und Papa.«

Rin Verran spürte einen Stich im Herzen. Möglichst sanft löste er die Umklammerung und stand auf. »Bestimmt hast du Hunger. Wo hat Mama das ganze Essen gelagert?«

»Weiß nicht.«

»Du bleibst hier und wickelst dich in die Decken ein, ja? Ich gehe suchen.«

Er hätte genauso gut mit einer Wand reden können. Ghan Reva folgte ihm auf Schritt und Tritt durch das Haus und auch zum Schuppen, in dessen hinteren Teil er schließlich etwas getrocknetes Fleisch und Säcke mit Kartoffeln fand. Kochen hatte er erst von He Kenje gelernt und war darin auch nicht sonderlich gut, aber für ein behelfsmäßiges Frühstück sollte es reichen. Während er darauf wartete, dass das Feuer heiß genug brannte, suchte er Ghan Reva wärmere Kleidung raus und ging dann nach draußen. Eine Weile stand er mitten im langsam herabfallenden Schnee, der auf seinem Kopf und seinen Schultern liegen blieb, und dachte nach.

Grüner Habicht und Roter DracheWo Geschichten leben. Entdecke jetzt