Ohrenbetäubende Schreie um ihn herum. Vielleicht war einer davon sein eigener. Verzweifelt schlug Rin Verran mit den Armen um sich, versuchte, etwas zu packen, während er das Gleichgewicht verlor. Schmerzhaft prallte er mit den Knien auf den Stein, durch den sich breite Risse zogen und der teilweise nach unten gesackt war. Er war wie erstarrt. Wenn er sich jetzt bewegte, was würde dann passieren?
»Verlasst die Mauer!«, ertönte der Befehl von Meister Jhe ganz in der Nähe. Wie durch ein Wunder war der Mann auf den Beinen geblieben. Um ihn herum waren die anderen Krieger der Sonne so wie Rin Verran gestürzt. Seine Stimme riss sie jedoch aus der Starre. Hals über Kopf stolperten die Männer und Frauen in Richtung der Treppe, doch unter ihren Schritten verbreiterten einige Risse sich. Jemand schrie auf, als sein Fuß in einer der Spalten stecken blieb.
Irgendwie schaffte Rin Verran es, aufzustehen. Mit kaltem Schweiß auf der Stirn und heftig keuchend ging er neben dem Krieger, der feststeckte, in die Hocke und versuchte, seinen Fuß zu befreien. Doch der andere war zu sehr in Panik.
»Hilf mir! Lass mich nicht allein! Lass mich...«
Ein weiteres Krachen ertönte. Rin Verran kippte nach hinten und als er aufsah, klaffte dort, wo vorher noch der Riss gewesen war, ein leeres Loch. Der Mann war verschwunden. Als wäre er in die Spalte gesogen worden. Was? Es gab keinen anderen Gedanken als diese eine Frage in seinem Kopf. Was passiert hier gerade? Was mache ich hier?
Plötzlich packte eine starke Hand ihn von hinten am Kragen seines Umhangs und zog ihn von dem Abgrund weg, der sich vor ihm aufgetan hatte. Jemand zischte ihm etwas zu. Er verstand nur das Wort »Dummkopf«, bevor er herumgeschleudert und angestoßen wurde, damit er in Richtung Treppe floh. Er sah nicht zurück.
Erst, als er unten ankam, wagte er es, zur Mauer hoch zu sehen. Schwarze Risse zogen sich wie ein Netz durch den weißen Stein. In der Mitte, direkt über dem Tor, prangte ein Loch, das mit den Trümmern zugeschüttet war, die durch ihr eigenes Gewicht nach unten gerutscht waren. Zwischen ihnen musste sich der Mann befinden, den er nicht hatte retten können. Und vielleicht noch weitere Krieger der Sonne.
»Bao Jenko!« Der Name kam aus seiner Kehle, bevor er den Gedanken zu Ende gebracht hatte. Er war auf der linken Seite gewesen. Dort, wo die ersten Felsbrocken gegen die Mauer geprallt waren. »Bao Jenko!« Mit klopfendem Herzen bahnte er sich einen Weg durch die Menge, die in einer Art Schockzustand zu dem Loch sah. Es schienen immer noch Menschen oben zu sein und der Beschuss hörte nicht auf.
»Rin Verran!«, ertönte gleichzeitig ein Ruf hinter ihm, aber er achtete nicht darauf. Hektisch suchten seine Augen nach der untersetzten Gestalt seines Freundes. Erneut schrie er seinen Namen und sah ihn kurz darauf zum Glück in der Nähe eines Zeltes. Er hockte auf dem Boden und hielt Tar Fe in den Armen, die aus einer Wunde an der Stirn blutete, ansonsten aber nicht verletzt zu sein schien.
»Bao Jenko!« Rin Verran trat zu ihm. »Geht es dir gut?«
Sein Freund hob den Kopf. Die Blässe in seinem Gesicht zeugte von der Angst, die ihn gerade durchströmte. Er konnte nicht antworten, nickte nur und zuckte zusammen, als plötzlich ein viel zu lautes Krachen ertönte. Eine riesige Staubwolke stieg in die Luft und fegte über die Krieger der Sonne hinweg, die erschrocken schrieen und die Arme schützend über ihre Köpfe hoben. Als Rin Verran zur Mauer sah, fuhr ein kalter Schauer über seinen Rücken. Dort, wo zuvor das Tor gewesen war, klaffte ein Loch, das von oben mit Trümmerteilen zugeschüttet wurde. Immer noch fielen Felsstücke von der Mauer ab und stürzten in die durch den Angriff entstandene Lücke.
Sie sind durchgebrochen, schoss es ihm durch den Kopf. Vage konnte er hinter den herumliegenden Mauerstücken und dem Staub, der immer noch in der Luft schwebte, den ewig brennenden Atem des Drachen sehen, aber was brachte ihnen das jetzt noch? Alle Körbe, in denen sie die Tongefäße mit dem Brennmittel aufbewahrt hatten, lagen jetzt wahrscheinlich zwischen den zerbrochenen Steinen oder standen nutzlos auf dem intakten Teil der Mauer herum. Rin Verrans Blick wanderte nach oben. Ist da immer noch jemand?
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Grüner Habicht und Roter Drache
AdventureBis zu seinem fünfzehnten Lebensjahr wächst Rin Verran mehr oder weniger behütet in seinem Zuhause, dem Phönix-Hof, auf. Obwohl er nur der uneheliche Sohn des Gilden-Anführers ist, träumt er davon, ein berühmter Erzwächter und Krieger zu werden. In...