Kapitel 60: Unschuld - Teil 1

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Rin Verran verabschiedete sich im Krähen-Palast nur von Ghan Edhor, der ihm einen Zettel mit der Beschreibung des genauen Ortes zusteckte, wo Dalja, die Mutter von Mahr Yuzhu, angeblich begraben worden war. Auf dem Weg zum Rothirsch-Turm würde er daran vorbei fahren und konnte genauso gut nachschauen, ob das, was Lew Amon erzählt hatte, wirklich stimmte. Die Abreise verzögerte sich jedoch um einige Stunden, weil Rin Veyvey das Abschiedsgespräch mit Ghan Minue einfach nicht beenden konnte. Sie waren im Krähen-Palast zu guten Freundinnen geworden und scherzten bereits damit, wie süß es doch wäre, wenn Rin Kahna und Ghan Irvan sich irgendwann ineinander verlieben und heiraten würden.

Nur über meine Leiche, dachte Rin Verran düster und fröstelte. Der Herbst war eingebrochen und wenn sie am Rothirsch-Turm ankamen, würde vielleicht sogar schon der erste Frost auf den Grashalmen glitzern. Falls es im Gebirge überhaupt sowas wie Gras gab. Er war noch nie auf dem Territorium der Mahr-Gilde gewesen, worüber er nur zu froh war, denn er mochte die Kälte nicht. In der Feuerkorn-Steppe war es selbst im Winter erträglich, aber wie würde es hoch oben auf dem Schwarzgras-Berg sein?

»Rin Verran«, sprach auf einmal jemand ihn von der Seite her an. Es war Wrun Tarebo. Bis eben hatte er noch in einem der Wagen gesessen, die von muskulösen Pferden gezogen wurden, aber aus irgendeinem Grund war er ausgestiegen. Sein Gesichtsausdruck war voller Ernst.

»Was ist?«

»Ich wollte mich für mein Verhalten entschuldigen«, erklärte der Erzwächter. »Ich habe dir nicht nur ein Mal vorgeworfen, zu den Drachenklauen zu gehören. Jetzt sehe ich, wie dumm das von mir war. Wenn es wirklich so wäre, hättest du den Forellen-Pavillon nie im Leben angegriffen. Im Nachhinein betrachtet hättest du uns auch erst gesagt, dass Muwam gebrannt hat, als es schon zu spät gewesen wäre.«

Rin Verran war ehrlich erstaunt.

»Sicher haben meine Behauptungen dich manchmal in eine schwierige Situation gebracht«, fuhr Wrun Tarebo fort. »Gerüchte sind bestimmt auch im Umlauf gewesen. Ich weiß, wie unangenehm sowas ist. Schließlich wird über mich auch genug getuschelt. Jedenfalls wollte ich mich entschuldigen.«

»Nicht schlimm«, sagte Rin Verran und zwang sich ein Lächeln ins Gesicht. »Jeder macht Fehler. Ich bin trotzdem froh, dass du deinen eingesehen hast.«

Wrun Tarebo nickte ihm dankbar zu und sah dann hinüber zum Tor des Krähen-Palastes, wo Rin Veyvey und Ghan Minue immer noch mit ihren Kindern in den Armen standen und sich unterhielten. »Beim Angriff auf Muwam ist die Liebe meines Lebens gestorben«, meinte Wrun Tarebo auf einmal leise. »Sie war dort Feuerwächterin. Ich hätte sie das Jahr darauf geheiratet. Es waren nur noch fünf Monate bis zu unserer Hochzeit. Manchmal frage ich mich, wie es wäre, wenn sie noch leben würde. Wer weiß, vielleicht würde sie dann mit den beiden da zusammen stehen und ich würde so geduldig auf sie warten wie du auf Rin Veyvey.«

Rin Verran klopfte dem Erzwächter tröstend auf die Schulter, sagte aber nichts. Er hatte keine Worte, um ihm einen Teil seines Schmerzes zu nehmen. »Ich hole sie. Das dauert mir schon zu lange.« Seufzend stampfte er an Wrun Tarebo vorbei zu den zwei Frauen, die ihr Gespräch unterbrachen, als er gerade in Hörweite war. »Wir müssen los.«

»Im Gegensatz zu dir habe ich hier Freunde, von denen ich mich vernünftig verabschieden möchte!«, fuhr Rin Veyvey ihn sogleich an und drückte Rin Kahna fester an ihre Brust.

»Nicht schlimm, nicht schlimm«, lachte Ghan Minue verlegen und wandte sich milde lächelnd an ihre Freundin. Ghan Irvan in ihren Armen griff immer wieder glucksend nach einem Ende des grau-weißen Tuches um ihren Hals, konnte es aber nicht zu fassen bekommen. »Denk daran, das große Zimmer im vierten Stock ist das von Mahr Ledja. Es ist das gemütlichste, das du haben kannst. Schnapp es dir also, bevor die anderen es tun.«

Grüner Habicht und Roter DracheWo Geschichten leben. Entdecke jetzt