Kapitel 78: Verzweiflung - Teil 4

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Die Rüstung wog schwer auf seinen Schultern. Die Angst vor dem, was kommen würde, aber noch mehr. Rin Verran rückte seinen Umhang zurecht, legte eine Hand auf Habichtfeders Griff und bahnte sich entschlossenen Schrittes seinen Weg durch die Menge nach vorne. Sun Shimei rannte hinter ihm her, hantierte nervös an seiner eigenen Waffe herum, die Rin Verran ihm gegeben hatte. Ein Kurzwert ohne Namen und ohne Geschichte. Einfach eines, das er einem der dreihundert Erzwächter abgenommen hatte, die mit ihm zur Gämsen-Pagode gezogen waren. Alle überraschend jung und wahrscheinlich auch unerfahren im Kampf. Einige erkannte er aber von der Eroberung des Forellen-Pavillons wieder. Die Augen hinter ihren Helmen leuchteten bei seinem Anblick auf. Natürlich. Sie hielten ihn für einen Helden. Sie dachten, er hätte sich freiwillig gemeldet, um diesen Angriff anzuführen. So wie damals.

Am Rand des Rotkiefer-Hains blieb Rin Verran stehen. Nur ein schmaler Wiesenstrich trennte ihn von der Brücke, die zum Tor der Gämsen-Pagode führte. Es war geschlossen. Natürlich war es geschlossen. Und es würde auch nicht so einfach aufgehen. Sie mussten erst eine Leiter an das Tor schaffen, damit einige Erzwächter hinüber klettern und es dann von innen öffnen konnten. Aber auf den weißen Mauern hatten sich bereits die Krieger der Sonne versammelt. Viele. Ihre Helme glänzten und ab und zu blitzten die Spitzen der Pfeile auf, die sie auf ihre Bögen gelegt hatten. Sie waren auf den Angriff vorbereitet. Der Rauch der Lagerfeuer war selbst aus dieser Entfernung für sie gut zu sehen gewesen. Sie hatten gewusst, dass eine Armee sich näherte.

Unwillkürlich musste Rin Verran an den Brief denken, den er nach der Eroberung des Forellen-Pavillons von Meister Jhe bekommen hatte. ›Wenn wir uns das nächste Mal sehen – und glaube mir, das wird passieren –, werde ich keine Gnade walten lassen! Ich werde dich töten, auch wenn es gegen den Kodex verstößt‹, hatte es geheißen. ›Die Gämsen-Pagode wird das letzte sein, was du siehst, bevor du deine Augen für immer schließt. Das verspreche ich dir.‹

Nun wird es so kommen, wie er es prophezeit hat, dachte Rin Verran bitter. Aus irgendeinem Grund zuckten seine Lippen amüsiert.

»Rin Verran«, wisperte Sun Shimei neben ihm und schaute mit großen Augen zu den Bogenschützen auf den Mauern hoch. »Es sind so viele. Warum sind es so viele?«

»Denk daran, was ich dir gesagt habe«, sagte Rin Verran. »Sobald du in der Gämsen-Pagode bist, hälst du dich von den Kämpfen fern und versteckst dich irgendwo, bis alles vorbei ist.«

»Aber Ihr habt mir doch...«

»Das, was ich dir gezeigt habe, reicht nicht, um gegen sie zu bestehen«, wies Rin Verran ihn zurecht. »In vier Tagen lernt man nicht viel.« Genau so lange hatten sie vom Krähen-Palast bis hierher gebraucht. Und jeden Tag war seine Verzweiflung gestiegen. Dies ist also das Ende.

Er atmete tief durch, zog Habichtfeder und hob sie hoch über seinen Kopf. Lauter Jubel brandete auf. Die Erzwächter schrieen und hämmerten mit ihren Fäusten und Waffen auf die Schilde oder gegen die Nadelbäume. Der Lärm war ohrenbetäubend. Voller Mut und Zuversicht. Als Rin Verran das Schwert senkte und mit der Spitze auf das Tor der Gämsen-Pagode deutete, stürmte die erste Welle nach vorne.

Die Bogenschützen auf der Mauer ließen ihre Geschosse davon schnellen. Ein Pfeil nach dem anderen prasselte auf die Schilde der Erzwächter hinab. Ein unaufhörliches Donnern und Hämmern. Einige fanden ihren Weg zwischen den Schilden hindurch und bohrten sich in schutzlose Hälse und Hände. Die ersten gingen nieder.

»Schießt!«, ertönte hinter Rin Verran der laute Befehl und eine Salve eigener Pfeile erhob sich in die Luft, regnete auf die Krieger der Sonne nieder. Einige schafften es nicht rechtzeitig, Schutz zu suchen. Sie strauchelten, ihre Oberkörper kippten nach vorne oder zur Seite. Ein junger Mann fiel von der Mauer und stürzte haltlos in die Tiefe, wo ihn die scharfen Steine des Knochenbrechers erwarteten. Rufe wurden laut, Schreie peitschten durch die Luft. Immer mehr Krieger der Sonne verloren ihr Leben, bis sie zu wenige waren, um das Vorrücken der ersten Welle mit ihren Pfeilen aufzuhalten.

Rin Verran bemerkte, wie Sun Shimei neben ihm vergeblich versuchte, das Zittern seiner Hände zu unterdrücken. »Denk daran, was ich dir gesagt habe«, rief er ihm zu, bevor er Habichtfeder erneut hob, einen Kampfschrei ausstieß und auf die Brücke rannte. Die restlichen Erzwächter folgten ihm, ein Teil von ihnen schützte die Männer und Frauen, die die Leiter nach vorne trugen. Mittlerweile war die erste Welle schon beim Tor angekommen. Sie würden die Aufgabe haben, jene mit ihren Schilden zu schützen, die die Leiter aufstellten. Durch den Lärm hindurch war das Sirren weiterer Pfeile zu hören, der Aufprall der Metallspitzen auf starke Schilde oder in weiche Haut. Schreie, Blut auf dem weißen Stein, weitere Erzwächter, die tot zu Boden sanken. Und weitere Krieger der Sonne, die in den Tod stürzten.

Mitten auf der Brücke blieb Rin Verran auf einmal stehen. Wird es gelingen?, fuhr es ihm durch den Kopf. Wird es wirklich gelingen? Aber was erwartet uns auf der anderen Seite? Was erwartet mich? Wer erwartet mich? Er wusste ganz genau, wer dort auf ihn wartete. Ein Mann mit zwei Schwertern in der Hand, die Augen tief in den Schatten, die Braunen wütend zusammengezogen. Ich habe geschworen, niemanden mehr zu töten. Eher sterbe ich.

Sein Blick wanderte über die toten Erzwächter. Eine junge Frau lag mit einem Pfeil im Hals am Rand der Brüstung. Rotes Blut quoll über ihre Lippen, während sie ihren letzten Atemzug tat. Der Schild lag mehrere Schritte weiter. Daneben ein Mann, der vielleicht zwanzig Jahre alt war. Der Helm war verrutscht. Das Gesicht nur noch zu erahnen unter dem Pfeil, der ihm im Auge steckte. Die weißen Federn daran flatterten leicht hin und her als könnten sie jederzeit vom Wind weggerissen werden.

Rin Verran ließ das Schwert sinken, schloss sich nicht der Menge an, die darum kämpfte, im wüsten Beschuss durch die Krieger der Sonne die Leiter stabil aufzustellen. Stattdessen trat er zur Steinbrüstung, blickte hinab in den rauschenden Knochenbrecher. Das Wasser war pechschwarz. Man sah das Blut gar nicht, das aus den Leichen der Aufständischen hinein floss. Ihre Körper waren nicht mehr als solche zu erkennen. Die Knochen waren gebrochen. Einige wurden von der Strömung flussabwärts gezerrt, weiter in Richtung Norden.

Und plötzlich fiel Rin Verran etwas ein. Ein Fluss, zugefroren bis auf eine einzige Stelle. Er erinnerte sich daran, als wäre es erst gestern gewesen. Als könnte er immer noch die bittere Enttäuschung darüber spüren, dass er Dul Arcalla hatte gehen lassen ohne ihr seine Gefühle zu beichten. In jenem Winter in der Gämsen-Pagode.

Seine Gedanken waren im Chaos. Wenn er hinunter sprang und genau dort landete, wo der Fluss tiefer war, wäre dieser sinnlose Kampf beendet. Er müsste nicht gegen Meister Jhe kämpfen. Er müsste niemanden mehr töten. Er müsste nicht zu Ghan Shedor zurückkehren, um in Schande das Leben zu lassen.

Ohne zu zögern steckte er Habichtfeder zurück in die Scheide und schwang sich über die Brüstung, stürzte in die Tiefe. Sein grüner Umhang fegte hinter ihm her wie eine ausgebreitete Vogelschwinge. »Meister Rin!«, hörte er jemanden seinen Namen rufen. Die Stimme in Panik und voller Angst. Kurz vor dem Aufprall schloss er die Augen. Dann ging ein Ruck durch seinen Körper. Wasser überall um ihn herum. Es zerrte an ihm, zog ihn immer weiter runter. Rin Verran kämpfte gegen den Sog an und gegen den Drang, nach Luft zu schnappen. Sein Bein tat weh. Irgendwas war nicht in Ordnung.

Wilde Luftblasen um ihn herum, ein ohrenbetäubendes Rauschen. Mit klammen Fingern löste er den Umhang, der sich um seinen Hals gewickelt hatte, ließ ihn von der Strömung wegreißen. Doch die Rüstung... Seine Rüstung war zu schwer. Verzweifelt sah er zur Wasseroberfläche. Seine Lungen brannten. Er würde ertrinken, er wusste es ganz genau. Sein Körper schrammte über spitze Felsen. Die Kanten verhakten sich zwischen den Metallplatten, bogen sie auseinander. Etwas schlitzte seinen Rücken auf. Blut im Wasser. Als er versuchte, von dort weg zu schwimmen, wirbelte der Knochenbrecher ihn herum. Sein Kopf stieß gegen etwas Hartes, der Helm löste sich. Für einen schrecklichen Moment wurde alles schwarz.

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Und damit endet das erste Buch »Grüner Habicht«. Ein Cliffhanger und ein fieser noch dazu, denn jetzt habt ihr keine Ahnung mehr, was auf euch zukommt. Schließlich spielt der Prolog zeitlich gesehen in diesem oder kurz nach diesem Kapitel ;)

Ich hoffe, das Buch hat euch bisher gefallen und ihr bleibt auch weiter dabei. Immerhin sind viele Sachen noch ungeklärt und rätselhaft. Wer ist Yodha? Was ist mit den Drachenklauen? Was wird Ghan Shedor jetzt machen? Was passiert mit Rin Veyvey, Rin Raelin, Dul Arcalla, Sun Shimei und vielen anderen Figuren, die teilweise vielleicht schon etwas in Vergessenheit geraten sind? Und natürlich: Was ist mit Rin Verran?

Und wie heißt es so schön: Trigger-Warnung fürs nächste Kapitel.

Grüner Habicht und Roter DracheWo Geschichten leben. Entdecke jetzt