Rin Verran betrachtete fasziniert die vier Meister, die nun nacheinander die Plattform betraten. Sie alle trugen Kleidung in den Farben der Val-Gilde, ein helles Grün mit weißen Blumen in der Nähe der Ärmel und des Kragens. Zha Denja hatte zur Feier des Tages ein elegantes Kleid angezogen, das bei jedem ihrer Schritte leicht hinter ihr her flatterte als würde es andauernd versuchen, sie einzuholen. In ihrer rechten Hand hielt sie einen Fächer, den sie mit einfachen Bewegungen auf und zu schnappen ließ.
Sie ist die Meisterin von Jadna, dachte Rin Verran. Er ließ seinen Blick über die versammelten Schüler schweifen und versuchte, die vertraute Gestalt seiner Schwester auszumachen, aber sie schien nicht da zu sein. Es war der Beginn ihres letzten Jahres bei der Val-Gilde. Möglicherweise hatte sie die Gämsen-Pagode verlassen, um von Stadt zu Stadt und Dorf zu Dorf zu reisen und dabei Erfahrungen zu sammeln.
»Siehst du Jadna irgendwo?«, fragte nun auch Rin Raelin und tat sein Bestes, um den Jubel und Applaus der Umstehenden zu übertönen. Vorne auf der Plattform warteten die Meister geduldig darauf, dass der Lärm verklang.
»Nein«, antwortete Rin Verran.
Sein Bruder schien genauso enttäuscht wie er, schlug die Augen kurz nieder, sah dann jedoch wieder auf. »Komm«, sagte er entschlossen und ergriff Rin Verran am Handgelenk. »Wenn wir uns nach vorne drängeln, sind wir vielleicht wirklich rechtzeitig da, um Val Zirro als Meister zu bekommen.«
Er war jedoch nicht der einzige mit dieser Idee. Die Anhänger aller Gilden drängten nach vorne, stießen sich gegenseitig weg und teilten Ellenbogenstöße nach allen Seiten aus. Rin Verran sah, wie ein Mädchen in einem gelben Gewand sich ungewöhnlich grob und laut fluchend durch die Menge bewegte und bald darauf aus seinem Sichtfeld verschwand. Er und Rin Raelin waren gerade mal bis zur Mitte des Platzes gekommen, als ein Weiterkommen unmöglich wurde, weil die Leute zu dicht beieinander standen. Auf der Steinplattform hatten die Meister bereits ihre ersten Schüler begrüßt. Wie üblich hatten Val Zirro und Val Erjan die meisten, Zha Denja ebenfalls einige und Jhe Newin gar keine. Um den Mann mit dem finsteren Gesicht hatte sich eine Art Blase gebildet, die niemand zu betreten wagte.
»Natürlich hat das Arschloch Val Zirro bekommen«, zischte auf einmal Rin Raelin.
Rin Verran folgte seinem Blick und sah, wie im selben Moment Ghan Idos die Steinplattform betrat und mit einer Verbeugung Val Zirro darum bat, sein Schüler zu werden. Der Anführer der Val-Gilde nickte zustimmend und deutete einladend auf die Treppe, die von der Plattform hinunter auf einen Weg führte, auf dem man geradewegs zu den Wohnhäusern der Schüler kam. Ghan Idos richtete sich auf und winkte den Anhängern seiner Gilde stolz zu, bevor er verschwand.
»Arschloch«, zischte Rin Raelin erneut.
»Lasst mich durch! Lasst mich durch! Platz da, Platz!«, ertönte links eine ihnen bereits bekannte Stimme. Mahr Xero, der Junge, der zuvor mit seinem Schwert angegeben hatte, bahnte sich mit Hilfe seiner Anhänger einen Weg nach vorne. Sie durchschnitten die Menge wie ein rotbrauner Fluss, doch sie schienen nicht zu Val Zirro unterwegs zu sein, sondern hielten vor Zha Denja an. Die Meisterin schaute überrascht zu ihnen runter.
»Nehmt mich als Euren Schüler an, Meisterin Zha!«, rief Mahr Xero und verbeugte sich vor ihr. Die restlichen Anhänger seiner Gilde wiederholten die Worte wild durcheinander, aber dennoch verständlich.
Zha Denja war immer noch überrascht und hatte die Augenbrauen leicht angehoben. Der Fächer in ihrer Hand klappte auf und zu, während sie versuchte, die Situation zu verstehen. Es war ziemlich ungewöhnlich, dass alle Anhänger einer Gilde denselben Meister haben wollten. Normalerweise gab es mindestens einen oder zwei, die sich abspalteten. Jeder hatte seine eigenen Vorlieben. Jetzt plötzlich mit zehn Kindern derselben Gilde auf einmal konfrontiert zu werden, machte Zha Denja leicht nervös.
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Grüner Habicht und Roter Drache
AdventureBis zu seinem fünfzehnten Lebensjahr wächst Rin Verran mehr oder weniger behütet in seinem Zuhause, dem Phönix-Hof, auf. Obwohl er nur der uneheliche Sohn des Gilden-Anführers ist, träumt er davon, ein berühmter Erzwächter und Krieger zu werden. In...